Acta Pacis Westphalicae III A 3,1 : Die Beratungen des Fürstenrates in Osnabrück, 1. Teil: 1645 / Maria-Elisabeth Brunert
V. Die Sitzungen unter magdeburgischem Direktorium in institutioneller Sicht
Der institutionelle Charakter der fünfzig Sitzungen unter magdeburgischem Di-rektorium wandelte sich in der Zeit von Juli 1645 bis Anfang Februar 1646 mehrfach. Zu Beginn bildeten die fürstlichen Gesandten ihrem Selbstverständnis nach einen Teilfürstenrat. Wichtige Voraussetzung dafür war der in der zweiten Sitzung auf schwedische Anregung hin gefaßte Beschluß, daß alle Reichskollegien in sich geteilt werden sollten
. Trotz der örtlichen Trennung würden beide Teil-fürstenräte eine Einheit bilden
(nulla separatio nisi loci
So Lampadius (s. Nr. 3 nach Anm. 24).
). Dementsprechend
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wurde der Osnabrücker
Schluß über den Modus deliberandi et agendi dem Für-stenrat Münster mitgeteilt. Der dorthin reisende kulmbachische Gesandte über-brachte ihn dem österreichischen Direktor des Fürstenrats Münster und nahm an der anschließenden Sitzung teil
. In der fünften Sitzung zählten die Osnabrücker Gesandten ihre Voten und stellten fest, daß die Gesandten in Münster kaum die Zahl der Osnabrücker erreichen würden. Da sie also die Mehrheit bildeten, sei der Osnabrücker
Schluß als Conclusum
des fürstlichen collegii zu achten. Die Gesandten brachten ihre Auffassung von der lokalen Separation, die keine institu-tionelle Trennung bedeute, auch brieflich gegenüber dem Fürstenrat Münster zum Ausdruck
.
Die katholischen Stände und die Kaiserlichen sahen die Sitzungen der Evangeli-schen selbstverständlich nicht gern, da diese stets Beschlüsse faßten, die ihren In-tentionen widersprachen. Bereits die Führung des Direktoriums durch Magde-burg, dessen Zulassung bis zum 22. Dezember strittig war, mußten sie mißbilli-gen
; außerdem widersetzten sich die Evangelischen den Wünschen der Kaiserli-chen
und standen offenkundig unter starkem schwedischen Einfluß. Die kaiser-lichen Gesandten versuchten deshalb, katholische Gesandte nach Osnabrück kom-men zu lassen. Diese versicherten, daß sie dazu bereit seien, wenn sich nur erst das österreichische Direktorium dorthin begeben werde. Der österreichische Gesandte Wolkenstein hatte zwar einen entsprechenden kaiserlichen Befehl, doch kam ihm der Aufenthalt allein unter all den evangelischen Ständen zu
beschwehrlich vor, so daß er lieber in Münster blieb, zumal über die Admission Magdeburgs und Hessen-Kassels noch nicht entschieden war
. Diese Bemühungen der kaiserlichen Gesandten setzten die Annahme voraus, daß die Evangelischen einen Teil des Fürstenrates bildeten, dem sich die katholischen Stände selbstverständlich an-schließen würden, wenn sie sich nur erst entschließen könnten, nach Osnabrück zu kommen. Auf derselben Voraussetzung basieren die
Punkte des münsterischen kurfürstlichen Conclusums über den Modus consultandi vom
2. September, in de-nen über die Direktorien im
Fuersten=Rath gesagt wird, daß sie Österreich und Salzburg zuständen und diese sich darüber verständigen müßten, falls Österreich nicht an beiden Orten vertreten sein könne. Magdeburg habe sich in Osnabrück
nur interims-weiß des Direktoriums angenommen
. Demnach betrachtete man die evangelischen Gesandten in Osnabrück als Teil des Fürstenrates, dessen Di-rektorium vorübergehend, bis zum Eintreffen der herkömmlichen, rechtmäßigen Direktoren, von Magdeburg geführt wurde. Dasselbe besagt ein Eintrag im Dia-rium des wetterauischen Gesandten Geißel, der zum 15./25. September notierte,
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daß vom magdeburgischen Direktorium,
weil Österreich noch nit ankömmen, zum Fürstenrat angesagt worden sei
.
Es kann also kein Zweifel bestehen, daß die Sitzungen unter magdeburgischem Direktorium bei Katholischen und Kaiserlichen zwar Ärgernis erregten, daß sie aber doch als Teilfürstenrat behandelt wurden, der nur vorübergehend irregulär geleitet und zusammengesetzt war.
Nach Eröffnung der kaiserlichen Responsionen und dem an diesem Tag gegebenen Versprechen der evangelischen Stände, nicht eher mit den Verhandlungen zu be-ginnen, oder konkret: nicht eher auf Ansage des österreichischen Direktoriums zu erscheinen, bis die
Exclusi zugelassen würden
, änderte sich die Situation. Durch dieses Versprechen gebunden, separierten sich die Gesandten und planten ein ähnliches Verhalten wie später die Reformierten, die den Sitzungen trotz er-gangener Ansage eine Zeitlang fernblieben. Die Fürstlichen beschlossen ferner, mit den Beratungen zu beginnen, sobald der Text der kaiserlichen Responsionen vor-liege
Siehe Nr.
[15] (Conclusum am Schluß der Sitzung, Punkt 2).
. Dem Fürstenrat Münster berichteten sie zwar von ihrem Versprechen und baten erneut um Zulassung der
Exclusi, doch verschwiegen sie ihre Absicht, mit den Beratungen anzufangen
. Sie wollten die Separation nämlich nicht publik machen und damit
zu noch mehrerm mißtrauen ursach geben
. Auch hofften einige wie Hessen-Kassel, daß das österreichische Direktorium erst gar nicht komme, wenn es von dem Versprechen erfahre
Siehe Nr.
[15] , Votum Hessen-Kassels in der zweiten Umfrage.
. Hessen-Kassel gehörte zu den
Exclusi und mochte es für sicherer halten, wenn die Situation, daß Österreich ansage, gar nicht einträte. Denn so ganz überzeugt von der Solidarität aller evan-gelischen Gesandten war man wohl doch nicht und fürchtete, daß der eine oder andere der Einladung folgen würde.
Natürlich gelang es nicht, die Separation geheimzuhalten. Die Gesandten zeigten sich sehr verärgert, als der Erste Entwurff,
das Ergebnis ihrer „geheimen“ Bera-tungen, rasch bekannt wurde
Zuerst erfuhren sie, daß die Franzosen den
Entwurff kannten (s. Nr.
[41 bei Anm. 39] ). Beson-ders die Ausschußmitglieder beklagten sein Bekanntwerden (s. Nr.
[48 bei Anm. 52] ).
. Dem Ausschuß, der diesen Entwurff
erarbeitet hatte, gehörte auch ein städtischer Gesandter an
Marcus Otto (s. oben bei Anm. 70).
. An den Beratungen über den Entwurff
nahmen die Reichsstädte aber nicht teil, sondern verfaßten ein geson-dertes Votum Curiatum.
Wie nicht anders zu erwarten, ernteten die Fürstlichen für ihre Separation Kritik, und dies sogar im Lager der Protestanten. Sayn-Wittgenstein und Wesenbeck er-klärten gegenüber Wartenberg, daß sie die Sitzungen unter magdeburgischem Di-rektorium für
privatas conventiones oder conventicula hielten
. Sie hatten mit
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ihrem Tadel nicht unrecht; denn was die Fürstlichen in Osnabrück praktizierten, war eine irreguläre Abspaltung, und sie planten ein boykottähnliches Verhalten (Nicht-Erscheinen trotz Ansage des Direktoriums), das eine Art Erpressung be-zweckte (Befolgung der Ansage nur bei Zulassung der
Exclusi). Die beabsichtigte Geheimhaltung kam hinzu, so daß der Begriff
conventiculum
In der spätantiken Kirchengesetzgebung bezeichnete conventiculum
eine Zusammenkunft (Synode) der Häretiker (
Du
Cange II,
545 s. v. conventiculum
Punkt 1). Siehe auch die Definition bei
Zedler (VI,
1167 s. v. Conventiculum): eine heimliche Zusammenkunfft, unerlaubte Congregation, wird allzeit im boesen Verstand gebraucht.
angemessen er-scheint. Diese wenn auch mißlungene Geheimhaltung unterschied sie von der Se-paration der Reformierten, die im übrigen von den anderen Ständen ebenfalls kritisiert wurde.
Eine neue Phase setzte mit dem Beschluß ein, die Gravamina Evangelicorum
aus dem Gutachten
auszusondern und getrennt zu übergeben. Entscheidend war der Vorschlag Sachsen-Altenburgs, die gravamina nicht allein nomine der evangeli-schen abgesandten im fürstenrath, sondern aller evangelischen stände zu übergeben
Siehe Nr.
[48] , Votum Sachsen-Altenburgs in der zweiten Umfrage.
.
Dem entsprach der Beschluß, sich vor der Übergabe mit den Reichsstädten und Kurbrandenburg über die Gravamina
zu vergleichen
Ebenda,
Conclusum, Punkt 1.
. In den folgenden Tagen wurde das Votum Curiatum
der Reichsstädte angehört und be-raten, während eine Verständigung mit Kurbrandenburg wegen des Exzellenz-titel-Streits scheiterte. Ersatzweise wurde beschlossen, daß bei Übergabe der Gra-vamina
die Voten Kursachsens und Kurbrandenburgs reserviert werden sollten
. In den folgenden Tagen wurden die Gravamina
durch fürstliche und jeweils ei-nen städtischen Deputierten den kaiserlichen, schwedischen und kurmainzischen Gesandten überreicht
. Beim Beschluß zur Ausgliederung der Gravamina,
bei den folgenden Beratungen und bei Übergabe derselben handelten die Gesandten als konfessionelle Gruppe (Corpus Evangelicorum
Siehe dazu
Wolff,
Corpus Evangelicorum, und
Repgen,
Corpus Evangelicorum, 1320.
).
Allerdings traten die evangelischen Gesandten in der Zeit vom 14. Dezember (Beschluß zur getrennten Übergabe der
Gravamina) bis zum 25./26. Dezember (Überreichung derselben) durchaus nicht immer als Corpus Evangelicorum auf. So tagten am 24. Dezember ausschließlich fürstliche Gesandte, die zwar auch über Fragen berieten, welche die
Gravamina betrafen, doch anfangs über ein hes-sen-darmstädtisches Memorial mit Bericht über kriegerische Gewaltakte Hessen-Kassels Umfrage hielten
. In den folgenden Sitzungen und Deputationen ging es in einigen Fällen nur um die
Gravamina
, doch rückten dann die Vorbereitun-gen für die
sessiones publicae in den Vordergrund und damit zum überwiegen-
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den Teil Belange, die nur die Fürstlichen betrafen
Am 2. Januar wurde über alle Punkte des Votum Curiatum
beraten, die nicht die Grava-mina
betrafen (Nr.
[76] ). Am 9. Januar ließen sich fürstliche und städtische Deputierte über die schwed. Replik informieren (Nr.
[79] ). Bei einer Sitzung der fürstlichen
Ges.
am selben Tag ging es nur um Fragen, die nicht die
Gravamina
betrafen (Nr.
[80] ). Am 27. Januar wurde beschlossen, das
Vollstaendige Gutachten
nach Maßgabe der schwed. Replik zu überarbeiten, um es bei den sessiones publicae
verwenden zu können (Nr.
[82] ). Am 31. Januar berieten die fürstlichen
Ges.
das erste Mal über ihre Protokollführung bei den
sessiones publicae
(Nr.
[89] ), und in der nächsten Sitzung, an der ebenfalls nur Fürstliche teilnahmen, waren die
Grava-mina
nur einer von mehreren Beratungsgegenständen (Nr.
[90] ).
. Bei der letzten Sitzung vor Beginn der
sessiones publicae ist auffällig, wie im sachsen-altenburgischen Proto-koll alles eliminiert ist, was nicht dem Charakter einer Fürstenratssitzung ent-sprochen hätte. Es wurde an diesem Tag über die Hilfsersuchen des Reichskam-mergerichts und Speyers beraten
. Drei Gesandte baten auch für die Stadt Worms, was anscheinend ins Conclusum aufgenommen wurde
. Im sachsen-altenburgischen Protokoll wurde die viermalige Erwähnung der Stadt aber nicht berücksichtigt, was sicherlich deshalb unterblieb, weil der pommersche Gesandte getadelt hatte, daß er es für
disreputirlich halte, wenn der
fürstenrath bei den Schweden wegen einer Stadt interveniere
wegen einer statt steht nur im magdeburgischen Rapular und fehlt wieder im altenburgischen Protokoll, s. Nr. 94 (S. 594 Z. 38).
. Bei Speyer lag der Fall anders, da es Sitz einer der wichtigsten Reichsinstitutionen war und daher auch dem Fürstenrat nicht gleichgültig sein durfte. Am selben Tag wie die Fürstlichen tagte auch der Städterat und entschied über das Memorial der Stadt Speyer:
Ut im fürsten-rath
. Die Trennung zwischen den beiden Reichsräten war also (wieder) voll durchgeführt. Die Sitzungen unter Magdeburger Direktorium galten als Teilfür-stenrat
Dem entspricht die Terminologie des wetterauischen
Ges.
Geißel, der zum 23. Januar
[
/2. Februar]
notierte: E〈in〉 furstenraht gehalten worden;
und zum folgenden Tag: Die erste session uffm rahthauß im volligen [
!] furstenraht gehalten worden
(
DGeissel
fol. 109’).
, der sich in den letzten Tagen vor Beginn der
sessiones publicae zuneh-mend mit der Vorbereitung dieser
haubtdeliberationen
Den Begriff haubtdeliberation
gebraucht das Magdeburger Rapular, das hohen Authentizi-tätswert besitzt, s. Nr.
[86 (S. 508 Z. 30f)] ; Nr.
[94 (S. 594 Z. 36)] . Andere Termini waren:
de-liberationes publicae,
s. Nr.
[86 (S. 514 Z. 21)] ,
reichsconsultationen,
s. Nr. 89 (S. 541 Z. 31), congreß mit den catholischen,
s. Nr.
[94 (S. 594 Z. 15f)] . Die offiziellen Protokolle der am 3. Februar beginnenden Sitzungen waren überschrieben:
Sessio publica
(numeriert, beginnend mit I), s.
Meiern
II, 262
. Auf einem Irrtum beruht wohl die Bezeichnung einer Sitzung unter magdeburgischem Direktorium mit reichssession im fürstenrath
im altenbur-gischen Protokoll, s. Nr.
[94 (S. 583 Z. 14)] .
befaßte.
Es sind demnach bei den Sitzungen unter magdeburgischem Direktorium vier Phasen zu unterscheiden:
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(1) In der ersten bildeten die fürstlichen evangelischen Gesandten einen Teilfür-stenrat, der mit dem anderen, in Münster befindlichen Teil mit dem Ziel korre-spondierte, sich zu einem einheitlichen Conclusum zu vergleichen, was im Fall der Forderung nach Zulassung der
Exclusi mißlang.
(2) Nach dem 25. September separierten sich die Fürstlichen und begannen mit der Beratung der Propositionen der Kronen und der kaiserlichen Responsionen. Anders als geplant, konnte die Separation nicht verheimlicht werden. Kritiker hielten die Zusammenkünfte für
conventicula.
(3) Die dritte Phase begann am 14. Dezember mit dem Entschluß, die
Grava-mina Evangelicorum zusammen mit den evangelischen Mitgliedern der anderen beiden Reichskollegien dem Kaiser, den Kronen und Kurmainz zu übergeben. So formierte sich das Corpus Evangelicorum, wobei die Initiative bei den Fürstlichen lag. Wegen des Exzellenztitel-Streits gelang es nicht, die Kurfürstlichen tatsächlich einzubeziehen.
(4) Die vierte Phase läßt sich nicht streng von der dritten trennen. Nach dem 25./26. Dezember traten die
Gravamina als Verhandlungsgegenstand allmählich in den Hintergrund. Die Fürstlichen beschäftigten sich zunehmend wieder mit allgemeinen Fragen und mit der Vorbereitung der am 3. Februar 1646 beginnen-den
haubtdeliberationen. Vor deren Beginn traten sie als (Teil-)Fürstenrat auf, der getrennt vom Städterat tagte.
Die in der Zeit vom 28. Juli 1645 bis zum 2. Februar 1646 unter magdeburgi-schem Direktorium abgehaltenen Sitzungen evangelischer fürstlicher Gesandter sind also der größeren Zahl nach als (Teil-)Fürstenrat einzustufen. Deshalb wer-den ihre Protokolle als Anfang des Fürstenrats Osnabrück und nicht als Beginn der Beratungen des Corpus Evangelicorum ediert.