Acta Pacis Westphalicae III C 1,1 : Diarium Chigi, 1639 - 1651, 1. Teil: Text / Konrad Repgen
1. Das Chigi-Tagebuch 1632–1655 im Cod. Chig. lat. a I 8
Die großen Handschriftenbestände der Chigi-Bibliothek, die durch Papst Alexander VII (1655–1667) begründet und von seiner Familie bis ins 20. Jahrhundert fortgeführt worden ist, befinden sich seit 60 Jahren in der Vaticana. Sie sind also in einer – trotz ihrer beschränkten Mittel – vorzüglich organisierten und modern geführten, wissenschaftlichen Institution seit langem allgemein und leicht zugänglich. Dennoch ist die Chigiana auch nach 1923 von der Forschung verhältnismäßig wenig beachtet worden
J.
Bignami
Odier S. 151, FN 42: »La bibliothèque Chigi n’a pas encore été étudié suffisament et réserve beaucoup de découvertes«.
. Hier ist also noch Raum für wirkliche Entdeckungen.
Eine solche Entdeckung war für mich vor zwanzig Jahren die überraschende Feststellung, daß Fabio Chigi, der spätere Papst, nahezu 23 Jahre hindurch eigenhändig ein Tagebuch geführt hat. Die erste Eintragung datiert vom 14. September 1632, die letzte vom 9. April 1655, zwei Tage nach seiner Wahl zum Papst. Da von einem derartigen Tagebuch in der mir bekannten Literatur nie die Rede gewesen war, mußte ich zunächst skeptisch sein. Doch die Authentizität dieser Quelle steht aus äußeren und inneren Gründen außer Frage. Die acht »volumetti«, von denen der Katalog der Chigiana spricht, sind Chigis persönli-ches Tagebuch für die Jahre 1632 bis 1655.
Warum dieses Diarium bisher nie benutzt worden ist, läßt sich natürlich nur vermutungsweise sagen. Manches spricht dafür, daß dies aus drei Gründen unterblieb. Erstens wird, wie erwähnt, ohnehin wenig in der Chigiana geforscht und besonders wenig über Fabio Chigi – vielleicht, weil sein Nachlaß so umfangreich ist, daß man lieber begrenztere Studienobjekte auswählt. Zweitens erschwert die mit dem Kleinbuchstaben
a beginnende Signatur des Diariums das Auffinden im Katalog; denn diese Signaturen finden sich im systematischen Katalog hinter den mit dem Großbuchstaben
R beginnenden Signaturen, weshalb sie mir bei meinen Forschungen in den fünfziger Jahren zunächst entgangen waren
Irreführend ist die zwar unvollständige, aber im Prinzip nützliche Übersicht über die Bestände der Chigiana für die Geschichte des Westfälischen Friedens, die L.
von
Pastor,
XIV, 2 S. 1169–1172 (nach den Vorarbeiten des Österreichischen Instituts in Rom ab 1905) bringt. Dort sind die tatsächlich mit Kleinbuchstaben beginnenden Signaturen mit Groß-buchstaben geschrieben: A I 31, A I 32, A I 39, A I 40, A I 42, A I 44,
und A I 45
müßte richtig heißen: a I 31, a I 32, a I 39, a I 40, a I 42, a I 44, a I 45
. Systematisch gesehen gehören diese Bände auch nicht zwischen die Reihe mit Großbuchstaben, sondern dahinter. G.
Incisa
della
Rocchetta,
Nunziatura, der seiner Publikation die vom Österreichischen Institut angefertigten Abschriften aus der Chigiana zugrunde gelegt hat, enthält kein Handschriften-verzeichnis. Er hat die korrekten Signaturen. L.-E.
Halkin
S. 58 ist hingegen mit der Angabe A I 44
und A I 46
erneut unkorrekt; es müßte heißen: a I 44, a I 46
.
. Drittens bietet die Auswertung dieses Tagebuchs erhebliche Schwierigkeiten, mit dem Lesen beginnend und mit dem Identifizieren endend.
[p. XX]
[scan. 20]
Denn dieses Tagebuch hält nicht Selbstreflexionen fest; es berichtet nicht von eigenen Meinungen, Überlegungen, Erwartungen, jedenfalls nicht in der Regel, sondern es enthält stichwortartige, sehr oft nur abgekürzte Notizen vom jeweiligen Tagesablauf: Namen von Personen, bei Amtsträgern oft nur mit dem Amt, das sie bekleideten; Tageszeitangaben; gelegentlich Verhandlungsthemen – der Verfasser notiert hier aus autobiographischem Interesse Tag für Tag in fünf, sechs, zuweilen mehr, zuweilen weniger Zeilen das, was er getan und erlebt hat. Das Diarium Chigi ist daher eine Quelle, die – abgesehen von dem Bezug auf ihren Verfasser – aus einer riesigen Fülle in sich nicht zusammenhängender, sondern punktueller Notizen besteht, die chronologisch aneinandergereiht sind. Gemeinsam ist ihnen zunächst die Tatsache, daß Fabio Chigi in diesen dreiundzwanzig Jahren die jeweilige Notiz für notier- und daher erinnerungs-würdig hielt. Chigis Tagebuch ist also primär biographisch wichtig.
Der Verfasser dieses Diariums kam jedoch durch seinen Aufstieg im kirchlichen Dienst in immer höhere Ämter; dadurch wuchs ihm ein immer weiter reichen-der Pflichtenkreis zu, von denen sein Tagebuch Notizen festhält. Es gewinnt daher – je später, je mehr – Bedeutung für die historische Erforschung jedes dieser zahllosen Geschäfte, mit denen Chigi sich im Laufe dieser Jahre zu befassen hatte: zunächst in der kirchenstaatlichen Verwaltung als Vizelegat von Ferrara (1629–1634), der zugleich für Grenzverhandlungen mit Venedig und für Militärverwaltung zuständig war; danach in diplomatischer Mission als Inquisitor in Malta (1634 bis 1639), wie der veraltete Amtstitel lautete
Diese Periode des Lebens Chigis ist hinsichtlich seiner amtlichen Tätigkeit gut erschlossen durch
V.
Borg.
; dann als Nuntius in Köln (1639 bis 1651), der außerdem seit 1644 als außerordentli-cher Nuntius die Vermittlung zwischen den katholischen Mächten beim westfä-lischen Friedenskongreß in Münster zu versehen hatte; schließlich, seit 1652, als Kardinalstaatssekretär Innozenz’ X (1644–1655) und als Konklaveteilnehmer 1655. Das Tagebuch bietet also ein auf Telegrammstil reduziertes Kalendarium dessen, was Fabio Chigi 23 Jahre hindurch in Ferrara, Malta, Köln, Münster, Aachen und Rom auf den verschiedenen Posten im Papstdienst getan und erlebt hat. Da eine ähnliche Dokumentation aus dieser Zeit für keinen anderen Papst, soweit ich sehe, vorhanden ist, kommt dem Chigi-Tagebuch eine einzigartige Bedeutung als Quelle zu. Darauf habe ich 1966 hingewiesen und die Edition des Tagebuchs für die Jahre 1639 bis 1651 im Rahmen der
APW in Aussicht gestellt
K.
Repgen,
Wartenberg S. 229, FN 59.
. Weil das Diarium Chigi, abgesehen von
Borg, der es zur Feststellung exakter Daten heranzog
Vgl. etwa V.
Borg
S. 11, FN 5.
, und gelegentlicher Benutzung in meinen Forschungen
Vgl. etwa K.
Repgen,
Elsaß-Angebote S. 72, FN 28;
ders.,
Finanzen S. 241, FN 52;
ders.,
Bzovius S. 26, FN 2, S. 44, FN 57 und öfter;
ders.,
Klerussteuer S. 60, FN 22 und öfter;
ders,
Archiv S. 316f.
noch unbekannt ist, dürfte es zweckmäßig sein, das Tagebuch kurz zu beschrei-ben.
★ ★ ★
[p. XXI]
[scan. 21]
Die Signatur
a I 8 der lateinischen Handschriften der Chigiana gilt für insgesamt zwanzig, im Katalog als
volumetti bezeichnete kleine Notizbücher vom Umfang eines heutigen Taschenkalenders. Sie sind heute von
(1) bis
(20) durchnumeriert, wurden früher aber mit Buchstaben des Alphabets gezählt, von
a bis
v, wobei
r fehlt, was auf einen Verlust hinweist. Solche kleinen Notizbü-cher mit weißem Papier, vom Buchbinder stabil gebunden, deren Blattzahl von 12 bis 252 differiert, hat der 1599 in Siena geborene junge Mann, der seit 1626 zur Ausbildung für die Prälatenlaufbahn in Rom weilte, schon in seiner Jugend benutzt
Chig.
lat. a I 8 (19)
ist ein Gebetbuch des jungen Chigi; zeitlich ähnlich der libro di ricordi circa lo spendere, dal giorno della mia partenza di Siena per Roma 1626. E di ogni altre spese di poi di vita, o di vestito (
Chig.
lat. a I 6).
. Diese Gewohnheit hat er als Papst beibehalten, wobei er sich nun allerdings etwas größeren Luxus leistete und goldgepreßten Pergamenteinband anfertigen ließ
Zum Beispiel
Chig.
lat. a I 8 (12),
ein Notizbuch des Papstes mit 211 Namen, je einer pro Seite, in alphabetischer Anordnung.
, während der Einband früher schlicht gewesen war.
Acht von diesen zwanzig volumetti
bilden das Tagebuch Chigis 1632 bis 1655. Es handelt sich um folgende Teile der Sammelsignatur Chig. lat. a I 8:
Signatur
|
|
Format
|
Blattzahl
|
Zeitraum
|
alt
|
neu
|
in cm
|
|
|
a |
(1) |
6,4 x 13,8
|
48
|
1632 IX 14 – 1633 III 15
Chig.
lat. a I 8 (1)
enthält außer dem von fol. 1 bis 27´ laufenden Tagebuch eine fol. 48 beginnende und (gemessen an der heutigen Maschinenblattzählung) rückwärts bis fol. 27´ führende Serie von teils täglichen, teils undatiert eingetragenen Notizen über die laufenden Geschäfte. Er benutzte das Notizbuch also einmal von vorn nach hinten und einmal von hinten nach vorn, und zwar zur gleichen Zeit; denn die erste derartige Notiz datiert mit 1632 VIII 4, die letzte mit 1633 I 31. Als Beispiel sei der Eintrag zu 1632 VIII 10 zitiert: Congregatione di offitiali del soldo per posdodami | Lettera a Roma per le dozze a S. Em. | Il pittore a Sant’Anna col salario | Le pitture mandate a Fano, e Pesaro.
Jede Zeile enthielt also die Aufzeichnung über ein einziges der laufenden Geschäfte, dessen Erledigung sich Chigi offensichtlich notierte, indem er den Wortanfang der Zeile mit zwei Schrägstri-chen durchstrich.
Ab fol. 30 finden sich auch Bleistiftnotizen, während die Eintragungen im Tagebuch wie bei den laufenden Geschäftsnotizen mit Tinte erfolgten.
Viele diesen Notizen ähnliche Aufzeichnungen Chigis finden sich auf kleinen, später aufgeklebten Zetteln, die offenkundig während der westfälischen Friedensverhandlungen entstanden sind; sie liegen in
Chig.
lat.
a I 42, zwischen fol. 148 und 319´.
|
b |
(2) |
6,6 x 13,0
|
56
|
1633 III 15 – 1634 III 17
Chig.
lat. a I 8 (2)
enthält ähnliche Geschäftsnotizen wie a I 8 (1).
Sie sind mit 1633 IV 1 – 1634 III 14 datiert.
Die doppelte Eintragung zum 15. März 1633 ist damit zu erklären, daß Chigi wegen der (offenkundig schon vorhandenen) Geschäftsnotiz auf fol. 27´ in
a I 8 (1) nur noch eine Zeile Raum für die Eintragung zu 1633 III 15 blieb. Er füllte diese Zeile mit dem Anfang der Eintragung, schloß sie mit einem Kreuz (als Hinweiszeichen) und wiederholte sie in
a I 8 (2) fol. 1.
|
d |
(4) |
6,7 x 13,7
|
104
|
1634 III 18 – 1637 VIII 19
|
f |
(6) |
6,5 x 12,8
|
110
|
1637 VIII 20 – 1641 XII 31
|
[p. XXII]
[scan. 22]
g
|
(7) |
6,4 x 12,9
|
109
|
1642 I 1 – 1646 XII 31
|
h |
(8) |
6,4 x 12,8
|
111
|
1647 I 1 – 1651 XII 31
|
i |
(9) |
6,3 x 12,8
|
85
|
1652 I 1 – 1654 VII 22
|
k |
(10) |
6,3 x 13,8
|
89
|
1654 VII 23 – 1655 IV 9
Chig.
lat.
a I 8 (10) enthält nach dem 9. April 1655 noch eine Reihe von nicht tagebucharti-gen, teils sehr persönlichen Eintragungen in Latein, die einen ganz anderen Charakter haben als die Eintragungen zuvor. Bis zum 9. April behält das Tagebuch aber seinen seit 1632 feststehenden Charakter. Typisch dafür ist die letzte Eintragung zum Tag der Papstwahl, 1655 IV 7:
e vo a letto stanco.
|
Wenn ich richtig sehe, hat Chigi sich über die Existenz und den Zweck seines Tagebuchs, das er gelegentlich einmal als
libellum bezeichnet (
DCh
Das Diarium Chigi zitiere ich in der oben angegebenen Weise mit der Sigle
DCh und der Zahl von Jahr, Monat und Tag. Dies ermöglicht ein leichteres Auffinden des Textes, als wenn mit Seitenzahl zitiert würde. Daher wird auch das Register nicht Seiten-, sondern Jahres-, Monats- und Tageszahlen enthalten.
1650 XII 31 Anm. a), nie ausdrücklich geäußert. Daher läßt sich wohl kaum konkret beweisen, warum er gerade am 14. September 1632 mit dem Tagebuchschreiben begonnen hat. Die Tatsache aber, daß er an dieser Übung festgehalten hat, bis er Papst war
Es läßt sich natürlich nicht ausschließen, daß Chigi als Papst, über den 9. April 1655 hinaus, noch ein dem
diario der Jahre 1632 bis 1655 entsprechendes Tagebuch geführt hat. Aber die Wahrscheinlichkeit spricht dagegen; denn es wäre dann vermutlich erhalten geblieben und zu den übrigen Büchlein der Signatur
a I 8 gefügt worden.
, läßt mit hinreichender Sicherheit erkennen, warum er sich für jeden Tag derartige Aufzeichnungen anfertigte: er war autobiographisch interessiert. Das Tagebuch hielt fest, was er Tag für Tag getan und erlebt hatte, und zwar in einer Form, die ihm das spätere Sich-Informieren über das früher Geschehene erleichtern sollte.
Bester Beweis für diese Absicht ist die Anlage der stets mit Tinte, also auf Dauer berechneten Eintragungen. Sie waren so übersichtlich eingerichtet, daß sich später darin leicht etwas nachsehen und finden ließ, zumal die Struktur des Tagebuchs all die Jahre hindurch unverändert blieb
Den folgenden Bemerkungen liegt das hier edierte Tagebuch zugrunde; auf geringe Abwei-chungen in der Zeit vor 1639 oder nach 1651 wird nicht eingegangen.
: Als Kolumnentitel trug er auf jedem Blatt recto die laufende Jahreszahl ein; das Ende eines Monats wurde durch einen Querstrich vom folgenden Monat deutlich abgetrennt; der Name des neuen Monats wurde unter diesen Querstrich als Überschrift, in der Zeilenmitte, mit entsprechendem Spatium, angebracht; und jede neue Tagesein-tragung begann mit dem Tagesdatum, dem (oft abgekürzten) Monatsnamen und der Wochentagsangabe – bei kirchlichen Feiertagen auch, aber nicht konsequent, mit Angabe des Festes
Die Festtagsbezeichnungen sind in die Edition aufgenommen. Daraus ergeben sich alle Einzelheiten. – Chigi hat zum Beispiel Ostern und Pfingsten regelmäßig vermerkt, Weih-nachten dagegen 1641, 1642 und 1643 nicht, Epiphanie 1641, 1642, 1644, 1646, 1647 und 1648 nicht. Bemerkenswert ist, daß Heiligenfeste selten notiert sind, auch Marienfeste selten: Mariä Verkündigung (25. März) wird nur 1640, 1645 und 1651 festgehalten, Mariä Himmelfahrt (15. August) 1646 und 1649; Unbefleckte Empfängnis Mariä (8. Dezember, damals aber noch kein gemeinkirchlich vorgeschriebenes Fest) nie. Wohl aber enthält das
DCh zum 15. August regelmäßig eine Eintragung über Messelesen oder Messeteilnahme, für den 25. März jedoch nicht in den Jahren 1643, 1646, 1647, 1648, 1649 (allerdings: Zahnschmerzen an diesem Tag) und 1650.
.
[p. XXIII]
[scan. 23]
Darüber hinaus verwendete Chigi in dem hier publizierten Teil seines Tage-buchs fünf verschiedene Arten, einzelnes hervorzuheben – sicheres Indiz für seine Absicht, Überblick zu behalten und wieder im Tagebuch nachsehen zu wollen:
-
– Verwendung von Versalien
-
– Anbringung von zwei Schrägstrichen am Zeilenrand
-
– Anbringung eines Kreuzes, meist am Zeilenrand, sonst am Zeilenanfang oder -ende
-
– Anbringung eines schrägliegenden Doppelkreuzes am Zeilenrand
-
– Unterstreichungen einzelner Wörter oder Sätze.
Mit Versalien markierte Chigi auf der Reise von Rom nach Köln 1639
Vgl.
DCh 1639 V 18, VI 16, 21, 27, VII 1, 6, 9, 14, 19, 28, 30, VIII 2, 5, 9.
, auf den Reisen von Münster nach Aachen 1649
Vgl.
DCh
1649 XII 13, 20.
sowie von Aachen nach Trier und zurück
Vgl.
DCh
1650 VI 21, VII 14.
und schließlich auf der Rückreise von Aachen nach Rom
Vgl.
DCh 1651 X 2, 9, 20, 29, XI 5, 11, 19, 28.
die Tatsache und die Stationen des Reisens – entweder quer zu den Zeilen
So in den FN 16 zitierten Fällen und
DCh 1649 XII 13.
oder in der laufenden
oder einer neuen Zeile
So in den FN 18 und 19 erwähnten Fällen.
. Im Unterschied zu diesen Markierungen, die vermutlich alle sofort bei der Eintragung des betreffenden Tages vorgenom-men wurden, ist es sehr zweifelhaft, ob die beiden Schrägstriche, die sich nach dem 13. Oktober 1640 nur noch zweimal finden
DCh 1642 XII 7: erste Notiz über einen Besuch nach seiner Operation;
DCh 1643 I 13: Notiz über Hodenschmerzen. Beide Markierungen also offenbar im Zusammenhang mit Chigis Steinoperation (vgl. unten S. XXIV).
, gleichzeitig angebracht worden sind. Der Tintenbefund
DCh 1639 IX 20 ist eine Ausnahme.
ist zu wenig eindeutig, um eine sichere Entscheidung dieser Frage zu ermöglichen. Aber die Beobachtung, daß diese Merkzeichen – abgesehen von den beiden erwähnten Ausnahmen – mit dem Zeitraum zusammenfallen, in dem der Kardinallegat Martio Ginetti noch in Köln weilte, mit dem Chigi sich schlecht verstand
Vgl. K.
Repgen,
Friedenspolitik S. 103f.;
ders.,
Bzovius S. 77f.
, und daß sie sich stets bei Tageseintragungen finden, in denen erwähnt wird, daß der Nuntius mit dem Legaten zusammengetroffen sei
Vgl.
DCh 1639 VIII 12, 16, 27, IX 11, 20 (dazu oben, FN 24), 26, X 3, 13, 18, XI 1, 24, XII 2, 16, 24, 1640 I 1, 13, 31, II 17, III 16, 30, IV 8, 10, 20, 29, V 4, 17, 27, VI 7, 17, 24, VII 2, 15, 25, VIII 1, 5, 12, 19, 28, IX 2, 8, 11, 13, 16, 23, 29, X 9, 12, 13 (Abreise Ginettis).
, machen fast sicher, daß Chigi sich auf diese Weise später einmal seine Begegnungen mit Ginetti rekonstruiert hat
Zu Chigis Verwendung der Schrägstriche als »erledigt«-Zeichen vgl. oben, FN 9.
.
[p. XXIV]
[scan. 24]
Das Kreuz am Zeilenanfang ist eindeutig bereits beim Schreiben als Merkzei-chen verwendet worden. Es findet sich in den für ihn quälenden Oktobertagen 1642, als er darum bangte, ob der berühmte Pariser Chirurg Girault zur Operation Chigis nach Köln kommen werde
DCh 1642 X 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12. Zur Sache vgl.
K.
Repgen, Finanzen S. 241, FN 52 (mit den weiteren Nachweisungen).
. Die Kreuze am Zeilenende sind Merkzeichen, die sehr wahrscheinlich oder sogar sicher ebenfalls bei der Niederschrift angebracht wurden; eine ausreichende Erklärung für diese Her-vorhebungen ist in fast allen Fällen möglich
DCh 1644 V 14: Abreise des Kardinals Carlo Rossetti aus Köln; 1650 IX 16: Abreise nach Aspremont; 1650 IX 22: Rückkehr aus Aspremont; 1651 XI 9: Nachricht vom Tode seines Bruders, Augusto Chigi. Nicht erklären kann ich bisher das Zeilenende-Kreuz
DCh 1651 X 11.
. Gut erklärbar ist meist auch der Grund für das Kreuz als Hinweiszeichen am Zeilenrand, das zwischen 1640 und 1644 häufiger, danach aber nur noch einmal, am Tage der Unterzeichnung der Friedensverträge mit Frankreich und mit Schweden in Münster (24. Oktober 1648), verwendet wird. Chigi markiert damit die Tage, an denen sich wichtige Dinge ereigneten oder er die Nachricht von solchen Ereignissen erhielt. Das Wichtigste in unserem Zeitraum waren für ihn die Tage, an denen Papst Urban VIII (1623–1644) gestorben und sein Nachfolger Innozenz X gewählt worden ist. Chigi hat diese Termine natürlich erst nachträglich, vermutlich am 17. August und 5. Oktober, durch ein besonders markant gestaltetes Kreuz, auszeichnen können
Vgl.
DCh 1644 VII 29, IX 15 mit VIII 17, X 5.
. In den anderen Fällen dürfte das Hinweiszeichen des Zeilenrand-Kreuzes aber sofort, mit der Niederschrift der zugehörigen Tagesein-tragung, angebracht worden sein. Das gilt ziemlich sicher für die Markierung des Beginns und Endes eigener Reisen
Das Zeilenrand-Kreuz
DCh 1642 VIII 12 galt vermutlich nicht dem Eintreffen der Nachricht vom Tode des Rota-Dekans Clemente Merlini, seines römischen Lehrers und wichtigsten Förderers (vgl.
K.
Repgen, Finanzen S. 230, FN 5 [mit weiteren Nachweisun-gen]), sondern der Abreise Chigis nach Würzburg; denn bei der Rückkehr nach Köln findet sich das gleiche Kreuz (
DCh 1642 IX 12). Für die Reise nach Münster vgl.
DCh 1644 III 14, 19.
sowie der An- und Abreise von verwandten
Vgl.
DCh 1642 III 26: Abreise des zum Internuntius in Brüssel ernannten Neffen Antonio Bichi. Für seine Tätigkeit in Brüssel vgl.
L.-E.
Halkin S. 37f.
, befreundeten
DCh 1640 VIII 20, IX 30: Francesco Maria Macchiavelli; 1641 IX 17: Abberufung Macchiavellis, dessen Nachfolge Carlo Rossetti übertragen wird.
oder wichtigen
DCh 1640 X 13 (Ginetti), 1643 II 9 (Girault).
Persönlichkeiten, für die Notiz von Sterbefällen
DCh 1642 VII 3: Tod der Mutter Ludwigs XIII, Maria Medici, im Kölner Exil.
, vom Eintreffen höfischer Nachrichten
DCh 1643 VIII 3: Kardinalpromotion, dabei Carlo Rossetti, der außerordentliche Nuntius für den Friedenskongreß in Köln.
oder von einigen Ereignissen zu Beginn des Westfälischen Friedenskongresses, die in ihrer Trag-weite nicht sofort zu erkennen waren, weil diese sich erst im Verlauf der Ereignisse ergab
Vgl.
DCh 1644 III 27 (Antrittsbesuch bei Nassau und Volmar), IV 10 (Prozession unter Teilnahme Chigis, Nassaus und d’Avauxs). Wichtig wurde dagegen die erstaunlich spät an Chigi übergebene Kopie des französischen Invitationsschreibens an die Reichsstände, 1644 IV 6 (Text:
Meiern I S. 219–222
; zur Sache zuletzt
W.
Becker S. 148f.); vgl.
DCh 1644 V 11.
. In all diesen Fällen liegt die Erklärung auf der Hand, in
[p. XXV]
[scan. 25]
anderen ist es jedoch nicht möglich, mit ausreichender Sicherheit anzugeben, warum ein durch Kreuz markierter Tag für Chigi bemerkenswert war
Vgl.
DCh 1642 III 5 (Thema der Besprechung Rossettis mit Chigi?); 1643 II 18 (P. Johannes Altinck SJ; Dr. Tillmann Plass; Jesuitenprovinzial); 1643 V 18 (Reliquien der Fürstäbtissin von Essen, Klara Maria von Spaur?); 1643 VII 13, IX 28 (römische Briefe vom 27. Juni und 5. September?); 1644 II 10 (Chigi bei Rossetti. Zur Sache vgl.
K.
Repgen, Chigis Instruktion S. 85f.; die Weisung des Staatssekretariats vom 1. Februar 1642 an Rossetti hatte dieser Chigi am 2. Februar ausgehändigt:
DCh 1644 II 3).
.
Unschwer ist hingegen die Bedeutung der zwei ineinander gezeichneten, schräg-liegenden Kreuze am Zeilenrand zu erkennen. Dieses Doppelkreuz hält wichtige Daten der schweren und teuren Steinoperation fest, für die Chigi sich den erwähnten Pariser Chirurgen nach Köln kommen ließ
Vgl. FN 28. Auf die Operation bezieht sich gewiß das hinweisende Randkreuz
DCh 1642 IX 24 (vgl. FN 41), und sehr wahrscheinlich ebenfalls das hinweisende Kreuz 1642 X 3.
. Das erste Doppelkreuz bezeichnet den Tag der ersten Operation (8. November 1642); das zweite den Drei-Könige-Tag 1643, als Chigi zum ersten Male wieder am Meßopfer teilnehmen konnte; das dritte den 2. Februar 1643, also Mariä Lichtmeß
Aber nicht als Feiertag im
DCh festgehalten.
, als er zum ersten Male wieder selbst zelebrierte. Chigi hatte sich auf diese lebensge-fährliche Operation christlich (Exerzitien, Generalbeichte
DCh
1642 IX 24 (interdico le visite),
IX 25 (comincio gli esercitii spirituali),
IX 26 (recogito annos meos in amaritudine animae meae per tutto il giorno),
IX 27 (fo la confession generale).
) und bürgerlich (Testament
Vgl.
DCh
1642 IX 20 und K.
Repgen,
Finanzen S. 274.
) vorbereitet.
Ebenso unproblematisch wie die Erklärung dieses Merkzeichens ist die Interpre-tation der 1643 gelegentlich
DCh 1643 I 11 (vgl. I 6), 25 (Messehören nach der Krankheit), II 2 (Messelesen); außerdem
DCh 1644 II 4 (Abtwechsel in Fulda).
, ab 1647 häufig begegnenden Unterstreichung einzelner Worte (meist Namen) oder Sätze. Es handelt sich aus der Periode in Münster meist, aber nicht immer
DCh 1647 VIII 9 (Rückkehr Serviens aus den Haag), X 24 (Promotion des Michele Mazzarino OP zum Kardinal am 7. Oktober 1647), X 25 (Tod Bergaignes); 1648 V 18 (Feiern zur Ratifikation des spanisch-niederländischen Friedens), X 25 (Te Deum wegen der Verträgeunterzeichnung vom 24. Oktober); 1649 X 12 (Rückkehr des Mitarbeiters Chigis,
don Severo), XII 13, 20 (Abreise und Ankunft).
Die Unterstreichung
DCh 1648 XI 12, nachträglich eingetragen, macht auf die Irrigkeit der Nachricht aufmerksam, die festgehalten war.
, um die Notiz des Abreisetermins anderer Kongreßteilnehmer
Abreisen aus Münster nach
DCh: 1647 III 27 (Herzogin Longueville), VII 16 (Trauttmans-dorff); 1648 II 3 (Herzog Longueville), IV 18 (d’Avaux), VI 29 (Peñaranda), VIII 9 (Chabot), X 12 (Leuxelring); 1649 III 12 (Servien), III 29 (Brun), IV 13 (Lamberg), V 19 (Raigersperger), VI 10, 12 (Nomis), VI 19, VII 2 (Krebs/Bayern), VI 20/VII 13 (Volmar), VI 21 (Carleni), VI 22, 29 (Fabri), VII 19 (La Court), VII 20 (Giffen), VIII 12 (Contarini), IX 13 (Krane), IX 23 (Nassau).
. Ähnlich hat Chigi es in der Aachener Periode gehalten
Vgl.
DCh 1650 III 8, 15 (Herzogin Longueville), III 17, 18 (Philipp Wilhelm von Pfalz-Neuburg), V 27, VI 6 (Antonio Bichi), VI 20, 24, VII 20 (Trier-Reise), VII 1 (Flavio Chigi), VIII 1 (Atanasio Ridolfi, Flavio Chigi und Michelangelo Bonci), VIII 8 (Flavio Chigi), IX 16, 22 (Aspremont-Reise), XI 9 (Antonio Abbondanti), XI 23 (Antonio Abbon-danti, Michelangelo Bonci), 1651 II 22 (Atanasio Ridolfi, Flavio Chigi, Michelangelo Bond), V 12, VI 3 (Antonio Abbondanti), V 26 (Heinrich Mehring), VIII 23 (Flavio Chigi, Giuseppe Guglelmi [vgl. dessen sicherlich von Alexander VII diktierte kurze vita in
Chig.
lat.
A III 64 fol. 569]).
,
[p. XXVI]
[scan. 26]
doch werden auch Nachrichten über den Verlauf der Fronde auf diese Weise hervorgehoben
Vgl.
DCh 1649 XII 31; 1650 I 28, XII 31; 1651 II 8, 19.
. Das Tagebuch ist, besonders 1650/51, voll von politischen Nachrichten über die französischen Wirren. Dies erklärt sich einmal daraus, daß Chigi in der Wartestellung der Aachener Jahre relativ wenig Amtspflichten zu erfüllen, also Zeit, an anderes zu denken, zur Verfügung hatte, zum zweiten aber aus seiner ganz ablehnenden Haltung gegenüber Mazarin. Dessen Sturz hält das Tagebuch wie einen Triumph fest
Vgl.
DCh 1648 XII 31; 1649 I 5; 1650 XII 31; 1651 II 19.
. Es muß dem Kölner Nuntius Chigi eine Genugtuung bereitet haben, dem scheinbar endgültig gestürzten Kardinal, der auf der Reise ins Brühler Exil Aachen passierte, Anfang April 1651 seine Aufwartung zu machen
Vgl.
DCh
1651 IV 2, 3, 4.
. Bei der Zurückhaltung von Urteilen, die Chigis Tagebuch sonst beobachtet, sind seine Passagen über Mazarin besonders bemer-kenswert.
Wenn Chigi im übrigen in seinem Tagebuch Abstinenz von Notierungen über die Einschätzung von Situationen und von Personen übt, so geschah dies selbstverständlich nicht, weil er kein Urteil besessen hätte. Das Gegenteil läßt sich aus seinem sehr umfangreichen nicht nur privaten, sondern auch dienstli-chen Briefwechsel mühelos belegen
Vgl. etwa Chigi an S. S., Münster 1646 I 12, dech. II 1 (NP
20 fol. 8/10´; hier nach Privatregisterkopie
Chig.
lat. A I 14
fol. 18/19´): Eine ausdrückliche Pariser Weisung gegen Chigis Vermittlungstätigkeit sei nicht gekommen. Ma è da sapersi con tutto il segreto, che monsieur Servien con la sua vehemenza, e prevalendosi del favore che ha apresso il sig. cardinale Mazzarino guida qua la barca, e domina gli altri due, che idolatrano S. Em., e ne tremono di paura.
Longueville sei von Chigis Vorstellungen über die Lage in Rom überzeugt, wage aber nicht, bei der Königin gegen Mazarin aufzutreten, wie aus Serviens Bemerkungen zu erschließen sei. Il sig. Servient poi sotto il lustro di far grande la Francia, tiene alte le pretensioni, et aspira alla monarchia. Parla despoticamente, e perché gli dispiacciono i rimproveri della sua noncuranza circa le cose della religione cattolica, e perché con la sua politica vuol mescolarsi a pro degli heretici, però cerca di sfuggirmi più che può, e di render otiosa la mediatione coll’impegnar prima le risolutioni con gli Svezzesi, e poi portarle in campo, per non mutarne un jota.
. Der Grund dafür liegt in dem Umstand, daß Chigi solche Dinge in seinem Tagebuch nicht festhalten wollte. Er will das Äußerliche, die handgreiflichen »Fakten« notieren – diese aber in sehr großer Zahl und mit großer Genauigkeit.
Die Präzision der Tagebuchnotizen war natürlich nur erreichbar, weil sein Tagebuch offenbar ganz regelmäßig und höchstens, wie sich aus zwei Beobach-
[p. XXVII]
[scan. 27]
tungen, einmal im Jahre 1647
Vgl.
DCh 1647 XI 3, 4: Eintragungen frühestens am 4. November.
, das andere Mal im Jahre 1650
Vgl.
DCh 1650 VI 3, 4, 5: Eintragungen wahrscheinlich am 5. Juni.
, ergibt, mit einem Abstand von zwei oder drei Tagen geführt worden ist
Anders zu bewerten sind Verbesserungen während des Schreibens (vgl.
DCh 1648 II 21, III 15) oder Nachträge (
DCh 1648 XII 31, 1649 I 5, 24).
. Es ist anzuneh-men, daß Chigi in der Regel seine Eintragungen täglich zu Papier gebracht hat. Deshalb sind sie eine so zuverlässige Quelle für das, was sie mitteilen. Die Tagebuchnotizen Chigis stehen den Ereignissen, über die sie berichten und die sie festhalten, ganz nahe. Man kann ihnen trauen. Sie sind ein hervorragend zuverlässiges Nachschlagemittel.
Zum Nachschlagen eignet sich das originale Tagebuch Chigi aber nur nach Überwindung einiger Schwierigkeiten. Zunächst ist zu betonen, daß die Lektüre der Tagebuchnotizen nicht leicht ist, weil Chigi ungewöhnlich klein geschrieben hat. Die Blätter, auf denen 1639 bis 1651 das Tagebuch eingetragen ist, sind weniger als 13 cm hoch. Auf diesem taschenkalendergroßen Papier hat Chigi in der Regel 29 bis 34 Zeilen untergebracht, zuweilen mehr, auch weniger
Für das Tagebuch in der Zeit 1639 V 18 bis 1642 XII 31 zähle ich: einmal 26, fünfmal 27, siebenmal 28, einundzwanzigmal 29, einunddreißigmal 30, fünfundzwanzigmal 31, sieben-undzwanzigmal 32, vierundzwanzigmal 33, fünfzehnmal 34, siebenmal 35 und einmal 36 Zeilen.
. Da Chigi außerdem fast stets einen ordentlichen Zeilenabstand wahrte, sind die einzelnen Buchstaben und einzelne Worte oft nur 1 bis 2 mm groß oder bestehen sogar nur aus so kleinen Änderungen der Richtung des Schreibduktus, daß es sich in Längenmaßen kaum noch ausdrücken läßt. Das macht das Entziffern dieser Quelle zu einem wahren Augenpulver. Bei schlechterem Tageslicht und bei nicht optimalem Kunstlicht lassen sich weite Partien des Chigi-Tagebuchs kaum lesen. Der Verfasser, der ja mit erheblich schlechteren Beleuchtungsverhältnissen leben mußte als wir heute, scheint über eine beneidenswerte Sehkraft der Augen verfügt zu haben und muß im Federspitzen ein wahrer Meister gewesen sein.
Die zweite Schwierigkeit ergibt sich aus einer großen Fülle von Abkürzungen, die der Tagebuchschreiber bei diesen privaten Aufzeichnungen, die nicht für dritte Augen bestimmt waren, gelegentlich oder regelmäßig benutzte, um Platz zu sparen und/oder mit dem Schreiben schneller voranzukommen. Diese Abkürzungsgepflogenheiten berühren zum Teil die Grenze des Kurrentschriftli-chen und bedeuten eine Art privater Stenographie. Sie haben sich oft wohl nur aus der Gewohnheit des eiligen Schreibens ergeben. Es bedarf daher schon einer gewissen Vertrautheit mit Chigis (im Prinzip sehr ordentlicher) Handschrift, um die Eintragungen seines Tagebuchs überhaupt lesen zu können.
Die dritte Schwierigkeit, die mit dem richtigen Lesenkönnen verbunden ist, aber darüber hinausführt, bereitet jedoch die Identifizierung sehr vieler Eintra-gungen. Ich nenne dafür drei Beispiele, könnte den Katalog aber mühelos erheblich erweitern:
[p. XXVIII]
[scan. 28]
– es begegnen zuweilen groteske Hörfehler, besonders bei deutschen Namen; das Gemeinte zu verifizieren, verlangt dann etwas Phantasie- und Kombinations-gabe
Der Ort Bolsenfausen
(
DCh
1639 VII 18) ist »Wolfratshausen«; der (
DCh
1641 I 2) zur Neujahrsgratulation erscheinende Mandarsagar
ist der Kölner Stadtsyndikus Dr. Gerwin Meinertzhagen.
;
– Chigi notierte sich viele Personen, die ihm dienstlich oder privat begegneten, in unsystematischem Wechsel mit ihrem Familiennamen oder der Bezeich-nung des Amtes, das sie bekleideten. Das bedingt oft sehr aufwendige Recherchen, besonders, wenn es sich um Institutionen handelt, bei denen während der Zeit, die das Tagebuch umfaßt, mit Personalwechsel zu rechnen ist, zum Beispiel bei den mehr als zwei Dutzend Orden, mit denen Chigi zu tun hatte, und deren Geschichte noch gar nicht oder für unseren Zweck unzureichend erforscht ist
Am leichtesten ist die Identifizierung bei dem damals am besten und zentral organisierten Orden, den Jesuiten; für die übrigen Mönchsorden und vor allem für die Frauenorden ist die Überlieferung erheblich schlechter.
;
– die Gewohnheit, bei Untergebenen und bei nahestehenden Italienern allein den Vornamen (und nicht den Familiennamen) zu benutzen, macht die Verifizierung oft schwierig, gelegentlich auch unmöglich
Der
DCh
1651 V 26 erwähnte don Henrico
ist sicher Chigis Mitarbeiter Dr. Heinrich Mehring; der
DCh
1649 X 12 erwähnte don Severo
ist sehr wahrscheinlich der Utrechter Kanoniker Dr. Theophil. Severus (bei G.
Incisa
della
Rocchetta,
Nunziatura S. 199, FN 1 nur vermutungsweise formuliert); den
DCh
1639 VIII 22 erwähnten canonico Conte
kann ich nicht näher identifizieren, ebenso nicht den
DCh
1640 I 3 erwähnten sig. Abramo
aus den Niederlanden.
.
Aber auch, wenn eine Identifizierung gelingt, was in den meisten Fällen möglich ist, sind die Schwierigkeiten nicht behoben; denn es läßt sich nicht in allen Fällen ein gleicher Grad von Genauigkeit erreichen; der unterschiedliche Genauigkeitsgrad aber ist gerade für eine Quelle wie dieses Tagebuch, mit ihrem Nebeneinander punktueller Notizen, von erheblicher Bedeutung. Das sei an einem relativ einfachen Beispiel erklärt: an Chigis Kölner Wohnung, von der das Tagebuch immer wieder spricht, wenn es mit »hier« oder »dort« Lokalisie-rungen beschreibt, wenn Chigi notiert, daß er »von Hause« oder »nach Hause« gegangen ist.
Aus dem Tagebuch selbst ergibt sich, daß Chigi drei verschiedene Residenzen bewohnt hat: zunächst die von seinem Vorgänger, Martino Alfieri, übernomme-ne
DCh
1639 VIII 9: vo in casa da mons. Alfieri.
; danach am 1. Oktober 1639 eine casa nuova
DCh
1639 X 1: passo alla casa nuova.
; und schließlich, ab 15. oder 23. Oktober 1640, eine dritte Wohnung
DCh
1640 X 15: passo dalla casa nuova;
X 23: vo alla casa nuova.
. Es läßt sich nun mit einiger Mühe ermitteln, daß Chigis erste – feuchte und daher schlechte
Chigi an Wartenberg, Köln 1639 VIII 13 (eig. Minutenkopie:
Chig.
lat. B I 7
fol. 503´/504): Arrivato [...] havendo trovate in malo stato di sanità sig. Alfieri mio antecessore per la mala qualità dell’habitatione [...];
ähnlich ders. an Wilhelm von Höllinghoven, Köln, 1639 VIII 13 (eig. Minutenkopie:
ebd.,
fol. 504); vgl. ders. an (seinen römischen Agenten) Stefano Ugolino, Köln 1639 VIII 21 (eig. Minutennotiz:
ebd.,
fol. 474): questa casa è fracida, et ha infracidato mons. Alfieri.
– Residenz wahr-
[p. XXIX]
[scan. 29]
scheinlich
die Propstei des Stiftes St. Andreas, einige Minuten Fußwegs nord-westlich des Doms
Der Plan »Köln. Kirchen und Klöster im Mittelalter«, in:
LThK
2VI, hinter Sp. 384, gibt eine erste, brauchbare Orientierung. Das Jesuitenkolleg lag an der Marzellenstraße, rheinwärts, etwa auf der Höhe des Dominikanerklosters.
, gewesen ist
A.
Franzen
S. 102, FN 67; NB
V/1 S. XXVII (1611 I 8): Bey S. Andreas Kirch;
Kunstdenkmäler
VII, 3 Erg. S. 188: »Quartier des päpstlichen Nuntius in der Propstei St. Andreas«.
. Die zweite, ab 1. Oktober 1639 bezogene Wohnung lag vermutlich ganz in der Nähe der ersten, in der Marzellenstraße, bei St. Paul
In den FN 61 zitierten Briefen vom 13. August an Wartenberg und Höllinghoven bat Chigi um Unterstützung für die Anmietung einer neuen Wohnung, die dem kurkölnischen Rat Adamo Heirstorf
gehöre und vicina a San Pavolo
liege. St. Paul schloß sich im Osten an St. Andreas an. Daß diese Mietabsicht vermutlich realisiert wurde, ergibt sich aus der Einladungsliste zu einem Doktorschmaus bei Kölner Jesuiten 1640, bei F. J.
von
Bianco,
Anlagen, S. 107–119, hier 108. Der Nuntius steht unter Die Marcellenstraß auff.
St. Paul lag dort.
. Wo Chigi dann ab Mitte Oktober 1640 gewohnt hat, läßt sich hingegen genauer angeben, weil das quellenmäßig bezeugt ist. In einem Informativprozeß urkundet Chigis Notar im Jahre 1643 in aula residentiae Ill
mae S. Cels
nis in camera superiori, e regione templi fratrum Minoritarum ordinis S. Francisci in praesentia mei notari
NAC 95/[3]:
gedruckte forma professionis fidei
des Paderborner Weihbischofs Bernhard Frick, Bischof von Cardica i. p. i., 1643 VIII 31. – Wie später in Münster hat Chigi auch im Kölner Minoritenkloster kleinere Ausbauarbeiten vornehmen lassen, die im Tagebuch festgehalten sind: vgl.
DCh
1640 X 30 (disegno la scala),
XI 2 (si lavora la scala di legno),
7 (fo accomodar le due stufe),
11 (fo spezzare le camere murate, e accomodate),
17 (fo accomodar le strade del giardino).
.
Damit erklärt sich, warum Chigis Tagebuch zum 30. April 1642 notiert: qui alla disputa a San Francesco,
oder warum der Nuntius zum Empfang der Osterkommunion in den Jahren 1641, 1642 und 1643 in die Pfarrkirche St. Kolumba gegangen ist, in deren Bezirk das Kölner Minoritenkloster lag
DCh 1641 III 31, 1642 IV 20, 1643 IV 5.
. Im ersten Falle läßt sich die Kölner Residenz Chigis also mit Wahrscheinlichkeit verifizieren, im zweiten Falle eine wenigstens als Vermutung sinnvolle Identifizierung formulieren, im dritten Falle aber der quellenmäßige Nachweis führen, wo Chigi gewohnt hat.
Dies interessiert uns hier nicht wegen der Geschichte der Residenz der Kölner Nuntien
Chigis Nachfolger San Felice nahm Residenz im Kölner Karmeliterkloster am Waidmarkt; vgl. NAC 95/11
(Informativprozeß für Adam Adami, Weihbischof von Hildesheim). Dort hatten von 1636 bis 1644 nacheinander Ginetti, Macchiavelli und Rossetti gewohnt; vgl. dazu K.
Repgen,
Friedenspolitik S. 104. Chigi scheint 1640 auch den Umzug in das Karmeliterkloster erwogen zu haben; vgl.
DCh
1640 X 14: a cui [= Macchiavelli] mostro questa casa, e l’altra da San Francesco; vediamo anco le stanze del Carmine.
, sondern als ein paradigmatischer Sachverhalt, der für die Einrich-tung der Edition des Chigi-Tagebuchs maßgebend ist. Da diese dem Benutzer
[p. XXX]
[scan. 30]
die unterschiedlichen Genauigkeitsgrade der Identifizierungsmöglichkeiten bei jeder Information, die das Tagebuch enthält, hinreichend deutlich machen muß, ist es unerläßlich, im Kommentar die verschiedenen Aussageebenen so standardi-siert zu formulieren, daß Mißverständnisse ausgeschlossen werden. Das mag trivial oder pedantisch klingen, ist aber für die Anlage des Kommentars zu einer Quelle, in der nicht gelesen, sondern nachgeschlagen werden wird, fundamental. Weitere Konsequenz dieser Überlegung ist der mißliche, aber unvermeidliche Umstand, daß der Tagebuchtext erst nach Fertigstellung des gesamten Kom-mentars durch ein Register erschlossen werden kann. Sonst würde das Register dem Benutzer die Verifizierungen und Identifizierungen, die der Editor mit so unterschiedlichem Genauigkeitsgrad erreicht hat, verschleiern, anstatt zu ihnen hinzuführen.