Acta Pacis Westphalicae III A 1,1 : Die Beratungen der kurfürstlichen Kurie, 1. Teil: 1645 - 1647 / Winfried Becker

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II. Zur Entstehung der Kurfiirstenratsprotokolle

Der allgemeine institutionenbezogene Ansatz zur quellenkundlichen Einordnung der Protokolle muß angesichts spezieller Gegenstände konkret gefaßt werden. Haben die vielen neuzeitlichen Institutionen in Europa nicht auch zur Ausbildung verschiedener Protokoll-Typen geführt, die von Gremium zu Gremium – und innerhalb der Ge-schichte eines Gremiums entwicklungsmäßig voneinander abweichen? Und weiter: Ist vom Entwicklungsstand eines Protokolls her der Rückschluß auf den Konsolidierungs-grad derjenigen Institution möglich, die das Protokoll produzierte? Vergleicht man einige neuere Protokoll-Editionen aus verschiedenen Zeiträumen, so wird trotz aller Unterschiede im einzelnen doch eine große Kontinuität in der Form sichtbar, in der gemeinschaftliches Handeln bezeugt ist

Vgl. M. Komjáthy (Hrsg.), Protokolle des Gemeinsamen Ministerrates der Österreichisch-Ungarischen Monarchie S. 124 Anm. 181: „In der Entwicklung der im weitesten Sinne ge-nommenen gesellschaftlichen Beziehungen, der gesellschaftlichen Berührungsformen, der Beziehungen innerhalb der Klassen, im alltäglichen Zusammenleben hat sich im Verlaufe von Jahrhunderten kaum eine meritorische Veränderung gezeigt. Gemessen an dem riesigen Unterschied, der zwischen den Lebensverhältnissen der altgriechischen Gesellschaft und der Welt der modernen bürgerlichen Gesellschaft in technischer Hinsicht besteht, haben sich Art und Formen des menschlichen Zu-sammenlebens seit dem Zeitalter des Perikles bis zum Zeitalter des ersten Weltkrieges im wesent-lichen kaum geändert.“
. Die Protokolle verschiedener Provenienzen und Zeiten unterscheiden sich gattungsmäßig von anderem Aktenschriftgut, aber nicht wesentlich voneinander: Die Editoren beschreiben ganz ähnliche Merkmale für Uni-versitätsprotokolle des ausgehenden 14.

E. Winkelmann (siehe oben S. XLIV Anm. 1), G. Ritter, Die Heidelberger Universität, I S. 120 (Plenarversammlungen seit 1393).
und 15. Jahrhunderts

A. Staehelin, Geschichte der Universität Basel S. 7ff., 19 (Regenzprotokolle seit 1482), A. Seifert (Bearb.), Die Universität Ingolstadt S. 94–99, 111, 127, 142–145, 209, 238. Die Protokollführung ist in „den neunziger Jahren des 15. Jahrhunderts“ an der Universität Ingol-stadt „zur festen Einrichtung geworden“ ( ders., Statuten und Verfassungsgeschichte S. 214f.).
, für Domkapitels-protokolle

Vgl. die Edition der Konstanzer und Speyerer Domkapitelsprotokolle durch M. Krebs, sowie F. Herrmann (Bearb. und Hrsg.), Die Protokolle des Mainzer Domkapitels seit 1450 III; Forschungsbericht von L. Lenhart, Zur Geschichte der Mainzer Domkapitelsprotokolle, in: AmrhKG 12 S. 129–147.
, die um 1450 einsetzen, für Konzilsprotokolle des 15.

Siehe unten S. LVII Anm. 6 sowie CT, 4.5, 6.1, 6.2, 6.3, 7.1, 8.9.
und Reichs-tagsprotokolle des 16. und 17. Jahrhunderts

Vgl. die unten angeführten Stücke aus den Deutschen Reichstagsakten, den Urkunden- und Aktenstücken des Burgundischen Kreises und den Acta Reformationis Catholicae (ARC), den APW III A 4, 1.
. Dabei spielt es im Grunde keine Rolle, ob die Protokolle der vorrevolutionären Zeit angehören wie die Wahl-protokolle des Kurkollegs

Siehe unten S. LIII Anm. 8.
und luxemburgischer Gemeinden

E. Bonvalot S. 83ff.
, wie die Protokolle des „Brandenburgischen Geheimen Rates“

Vgl. vor allem die Einleitung von Meinardus, Protokolle VI S. XI-XV.
, des österreichischen Geheimen Rates

Analyse bei Gross S. 240ff.
und der

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Propagandakongregation in Rom (seit 1622)

Acta SC de Pf.
, ob sie der Französischen Revolution selbst entstammen wie die Akten der Pariser Stadtverordneten von 1789–90

S. Lacroix (Publ.), Actes de la Commune de Paris pendant la Révolution I, 1–7.
oder ob sie Produkte des 19. und 20. Jahrhunderts sind: so etwa die Protokolle des öster-reichischen Ministerrats 1848–1867, die „Konseilprotokolle“ des preußischen Staats-ministeriums 1850–1878

Vgl. dazu H. Rumpler S. 103.
, die Protokolle des Gemeinsamen Ministerrats von Öster-reich-Ungarn (1914–1918)

Hrsg. von M. Komjáthy (siehe oben [S. LII Anm. 1] ).
und die Protokolle der Reichstagsfraktion der deutschen Zentrumspartei von 1926–1933

1926–1933, bearb. von R. Morsey.
.
Das auffälligste Merkmal, um zwischen altem und modernem Protokoll zu unter-scheiden, scheint die Entstehungsgeschichte zu bieten: dort die Verfertigung auf-grund einer mehr oder weniger vollständigen Mitschrift in der Sitzung, hier das Steno-gramm des Gesprochenen, das seit 1848 für die großen deutschen parlamentarischen Körperschaften die Regel geworden ist. Der Übergang von (langschriftlichen) Notizen zum Wortstenogramm bedeutet aber eher einen technischen Fortschritt als eine gene-tische Stufe in der Bildung oder im Zusammenwachsen von Institutionen. Eine Vorstufe zum genauen Wortprotokoll, das in der Regel der glättenden Korrektur der einzelnen Redner vor der amtlichen Fertigstellung unterliegt und folglich wie seine unvollkommeneren Vorgänger Mängel an Authentizität aufweisen kann, bildete wohl die Ablösung des reinen Beschlußprotokolls durch das ausführliche „Verlaufs-protokoll“

Bezeichnung aus BoshofDüwellKloft S. 233f.
, in dem die Meinungsäußerungen der einzelnen befragten Mitglieder des Kollegiums summarisch oder ausführlich oder gar wortgetreu aufgezeichnet wurden. Ein Grundtyp dieser Verlaufsprotokolle sind die Wahlprotokolle jeder Art

Wahlprotokolle aus den Anfängen politischer Meinungsbildung erwähnt bei M. Braubach, Ein publizistischer Plan der Bonner Lesegesellschaft S. 26 Anm. 2f., S. 38 Anm. 4; Wahlproto-kolle über mündliche oder schriftliche Wahlvorschläge der Urwähler bei Landtagswahlen bei K. Hugelmann, Die österreichischen Landtage S. 65.
, denn hier war die Zählung der Stimmabgaben die Grundlage für das Ergebnis der Sitzung und die jeweilige personelle Entscheidung, die Zählung aber hatte die genaue Notierung der Stimmen zur Voraussetzung. Eine Aufbewahrung der Einzelstimmabgaben konnte Anfechtungen der Wahl vermeiden helfen und die eigene Wahlberechtigung jedes Tagungsteilnehmers erhalten.
Als erste Protokolle des Kurkollegs sind Wahlprotokolle zu fixieren

RTA ÄR 1 nr. 45 S. 71f. (1376 VI 10), RTA JR 1 nr. 380 S. 849–853 (1519 VI 28).
. Von Anbe-ginn der kurfürstlichen Königswahl an herrschte innerhalb des Kurkollegs grund-sätzlich eine einzelne und gleichberechtigte Stimmabgabe, nicht etwa zusätzlich ein korporatives Votum, eine Akklamation oder Kooptation. Die egalitär konkurrie-rende Teilhabe jedes Kurfürsten an der Wahl, die im Gegensatz zu den teilweise überaus komplizierten, mit Elementen der Kooptation durchsetzten, abgestuften und indirekten Wahlmodi der Städte stand, könnte die Aufzeichnung einzeln gezählter

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Stimmen begünstigt haben. Dennoch liegt hier nur ein zeitlich und sachlich sehr ent-fernter Grund für die Votenzählung im ausgebildeten Kurfürstenratsprotokoll von 1645.
Wichtig für die Entstehung eines Sitzungsprotokolls war weiterhin die beratende Funktion, die die Kurfürsten dem König gegenüber ausübten. Von 1441 datiert eine in den Reichstagsakten abgedruckte knappe Aufzeichnung der königlichen Kanzlei über den Ratschlag der Kurfürsten

RTA ÄR 16 nr. 20 S. 61f. (1441 VII 6–16).
; die Ratgeber-Funktion der Kurfürsten aber war zweifellos älter als deren schriftlicher Niederschlag, das Festhalten des Ratsergeb-nisses in einer Art Protokoll

Vgl. auch Bonvalot S. 373, der „procès verbaux d’ élection“ nach dem Recht von Beaumont (1182) nicht vor 1591 findet, dazu aber bemerkt: „ils nous révèlent, malgré leur date moderne, des formes de procéder souvent très anciennes et parfois contemporaines des affranchissements“ (13. Jahrh.), Meinardus, Protokolle VI S. XIII, XV (Spanne zwischen Beginn der Proto-kollführung und Konstituierung der Institution, sowohl beim preußischen Geheimen Rat: 1604–1613, als auch beim Schwedischen Reichsrat: 1602–1621).
.
Ein dritter Faktor, der zur Entstehung der Kurfürstenratsprotokolle beitrug und der ebenfalls aus den inneren Verhältnissen des Kollegs resultierte, lag darin, daß der Kurmainzer es übernahm, die Kanzlei des Reiches und der Reichstage zu führen. Vor allem seit Berthold von Henneberg (1441/42–1504) verlagerte sich die führende Rolle des Erzkanzlers von der Kur und vom kaiserlichen Hof auf die Reichstagsgeschäfte.

Vgl. A. Schröcker S. 24ff., RTA MR 3,2 S. 1081.
Dem Mainzer Kurfürsten oblag die Überbringung der Reichsbeschlüsse an den Römischen König, der von den internen Beratungen der Reichstage ausgeschlossen wurde. Auch aus der politischen Position Bertholds entwickelte sich der später fest institutionalisierte Anteil des kurmainzischen Kanzlers an der Organisation der Ku-rien und des Kurfürstenrats. Für die schriftliche Fixierung der Reichsgutachten wurde die kurmainzische Kanzlei federführend und rechtlich verantwortlich. Damit war eine technische Voraussetzung des Kurfürstenratsprotokolls, die Existenz eines Sekre-tärs/Kanzlers für schriftliche Verlautbarungen, gegeben.
Die kompetierenden Rechte und Würden der einzelnen Kurfürsten im Kolleg führten zu Streitigkeiten, deren Schlichtung auf Dauer durch schriftliche Fixierung der einzelnen Vorrechte und Funktionen – bis hin zur Form des Protokolls – erleichtert wurde. Das erste, (allerdings nur in Regestenform) abgedruckte Protokoll des Kur-fürstenrats am Reichstag (1524) hat den Streit zwischen Kursachsen und Kurmainz um das Ansage- und Umfragerecht im Rat zum Gegenstand

Nürnberger Reichstag 1524 II 8 ( RTA JR 4 nr. 22 S. 54–59 und ff.: „Protokollarische Auf-zeichnung des Mainzer Sekretärs Andreas Rucker über die Verhandlungen auf dem Reichstage“). Auf diesen Streit wurde noch in der Lengericher Konferenz Bezug genommen, wo Kurbrandenburg und Kurbayern zugleich das sächsische Umfragerecht reklamierten. Siehe unten S. 171. – Wie die „Summarischen“ und die „Ausführlichen Protokolle“ der Kurmainzer Kanzlei vom Frankfurter Reichstag (1489) ist auch diese Aufzeichnung insgesamt ein diarienähnlicher Bericht über fort-laufende reichsständische Verhandlungen ( RTA MR 3,2 S. 1080f., 1099f.).
: Das technische Direk-torium des Mainzers im Kolleg wurde von Kursachsen mitbeansprucht. Der Streit-punkt wurde einer ausführlichen Berichterstattung, die auch die eigentlichen Beratungs-gegenstände der Sitzung mit einbezog, für wert erachtet. Darin trat, abgesehen von der allgemeinen Ratgeber-Stellung des Kurkollegs gegenüber dem König, ein spezieller thematischer Gesichtspunkt hervor, der protokollwürdig erschien: das technische Ver-fahren im Kolleg selbst, bezogen auf die rangmäßige Stellung und die Ehrenfunktionen seiner Mitglieder.
Das Protokoll von 1524 bringt bereits wichtige institutionsgeschichtliche Aufschlüsse. Kurtrier, das nicht weiß, ob es dem Aufruf von Kurmainz oder von Kursachsen folgend sein Votum ablegen soll, geht mit den übrigen Kurfürsten und Räten – ausgenommen Kurmainz und Kursachsen – zu Rate, wem es zu antworten habe: ein frühes Beispiel für die Unterredung a part, die im Kurkolleg wie in anderen Ratsgremien neben und vor den offiziösen Verlautbarungen der Einzelbefragten stattfand. Des weiteren findet hier schon ein Ausschluß derjenigen Ratsmitglieder statt, die an der Entscheidung einer bestimmten, in den Rat eingebrachten Frage materiell und direkt interessiert waren; auch später hatten die interessati den Sitzungen fernzubleiben, auf denen Angelegenheiten ihres eigenen Interesses verhandelt wurden. Historisch gesehen bildete die Beratung a part überhaupt den Ausgangspunkt eines eigenen Kur-fürstenrates insofern, als die Kurfürsten oder ihre Räte gesondert vom König und seinen Räten sowie den übrigen Reichsständen zu beraten begonnen hatten. Zieht man ungefähr gleichzeitige Universitätsprotokolle zum Vergleich heran, so wird der all-gemeine institutionsgeschichtliche Zusammenhang des Phänomens noch deutlicher: auch für die älteren Konzilstagungen der Universitäten Ingolstadt und Heidelberg waren itio in partes und Sonderberatungen korporativer Untergliederungen charakte-ristisch

Für Ingolstadt (vor 1507) A. Seifert, Statuten- und Verfassungsgeschichte S. 212f., 205–220, außerdem G. Ritter, Die Heidelberger Universität I S. 120.
. Die Einrichtung eines Kollegs im Kolleg kennzeichnet allgemein das Spät-stadium einer beratenden Institution; damit beginnt die Ausbildung neuer handlungs-fähiger und in sich (zunächst) wieder geschlossener Ratsgremien.
Wir setzen die Drei-Kurien-Organisation des Reichstags, wie sie ausgangs des 16. Jahrhunderts erreicht war, als idealtypische Ausformung der Reichstagsorgani-sation an, weil auch die frühneuzeitlichen Theoretiker des deutschen Reichsstaatsrechts dieses Entwicklungsstadium zum normativen Zielpunkt ihrer historischen Herleitun-gen erhoben haben. Der Reichstag bildete sozusagen das Ober-Kolleg, aus dem das Unter-Kolleg des Kurfürstenrats herauswuchs. Auf dem Reichstag, der selbst wieder von den Gesetzmäßigkeiten der kurfürstlichen Wahlberatungen beeinflußt wurde, ver-selbständigten und verdichteten sich die kurfürstlichen Sonderberatungen a part, bis das Bildungsgesetz des kurfürstlichen Reichstagskollegs sich schließlich auf dieses selbst erstreckte und das Corpus Catholicorum für erneute Parteiung unter Kur-fürsten, Fürsten und Ständen sorgte. Dieses Ober-Kolleg des Reichstags war erwachsen aus der curia regis, die bereits unter den Saliern und Staufern be-standen hatte. Es ist zwar auffallend, aber bei der „geringeren Ausbildung des Schreibereiwesens“, die für das 14. Jahrhundert noch festgestellt wird

Weizsäcker in RTA ÄR 1 S. LVI.
, erklärlich, daß der Reichsrat des Königs real bestand und häufig beansprucht wurde, ohne daß

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jedoch von diesen Beratungen Protokolle überkommen sind. Von den Reichstagen, die im 15. Jahrhundert zu festerer Form fanden, sind zunächst nur flankierende Schrift-stücke, wie man sie bezeichnen könnte, von der maßgeblichen königlichen Kanzlei überliefert: die Ausschreiben für die Reichstage und die Schlußmandate. Die Reichs-tagshandlungen selbst sind durch Briefe, Bündnisabmachungen, Urkunden und Nota-riatsinstrumente dokumentiert. Wie eine kurze Durchsicht der Reichstagsakten ergibt, erwiesen sich dann auch Propositionen und Bedenken der Stände als wichtig und über-lieferungswürdig. Auch hier wurden zunächst Anfang und Ende der Beratungen, der Auftrag an die Stände und ihr Gutachten, schriftlich festgehalten

Vgl. RTA JR 7, 2 nr. 104 S. 1128ff., nr. 106 S. 1138ff., RTA JR 2 S. 390ff.
, die Schriftlichkeit der Reichstage wuchs gleichsam von außen nach innen. Ausgefertigt wurden zunächst diejenigen amtlichen Dokumente, die den Beginn und den Schluß des Gesamtreichstags säumten und die den Ausgang sowie das Ergebnis der jeweiligen Ständeberatungen oder Beratungsperioden sichtbar werden ließen. Der Beratungsverlauf im einzelnen blieb von der Niederschrift vorerst ausgeklammert, er blieb rechtlich unverbindlicher, meist mündlicher Zwischentext.
Im 15. und 16. Jahrhundert traten nun verschiedene Umstände und Entwicklungen ein, die eine ausführlichere Überlieferung des gesamten Reichstagsgeschehens und in der Folge auch die Protokollierung der Ständeberatungen begünstigten. An erster Stelle ist hier die Reichstags-Berichterstattung der Städte zu nennen. Bereits auf dem Nürnberger Reichstag von 1387 wurden bei der Schilderung von Bündnisverhand-lungen zwischen König Wenzel und dem Schwäbischen Städtebund die Anwesenden und einzelne Beschlüsse aufgeführt

RTA ÄR 1 nr. 301 S. 546f. (1387 III 20–21).
. Aus solchen Schriftstücken entstanden dann „pro-tokollarische Aufzeichnung(en)“ der städtischen Ratsschreiber über die Verhand-lungen auf Reichstagen. Die Stadtschreiber berichteten sowohl über Verhandlungen der Städte untereinander wie über Beratungen in Ausschüssen u. ä., an denen Reichs-städte beteiligt waren

Vgl. RTA JR 4 nr. 28 S. 217ff. (1524), vorher RTA ÄR 16 nr. 42, 43 S. 80–86ff. (Ver-handlungen schwäbischer und fränkischer Reichsstädte 1441 VII 2–5), RTA JR 7,1 S. 593ff. (Ausschuß-Sitzungsberichte), 598f., 656 (Sitzungsberichte des Städterats vom Speyerer Reichs-tag 1529).
. Dabei reihten sie kurze Mitteilungen über Sitzungen, die an aufeinanderfolgenden Tagen stattgefunden hatten, chronologisch aneinander. In den fortlaufenden Berichten über Zusammenkünfte, die sich über mehrere Tage hinweg erstreckt hatten, wurden nicht nur Sitzungsbeschlüsse verzeichnet; bereits 1441 tauchen Voten einzelner Städte mit Namen auf

RTA ÄR 16 S. 80ff.
. In Form und Gehalt liegt hier der Archetyp des Reichstagsdiariums vor, dessen Führung später bei den Gesandten bedeutenderer Reichsstände zur Regel wurde: Es schilderte den eigenen Anteil an den Reichstagsgeschäften, verzeichnete den eigenen Briefauslauf und -eingang und enthielt Eintragungen allgemeinerer Natur über den Verlauf des Reichstags

Bekanntes Beispiel das „Protokoll“ des Augsburger Reichstags 1530 von Valentin von Tetleben (dazu APW [III A 4, 1 S. XXXIV] ).
. Zwei Ursachen für das schreibfreudige Verhalten der Städte auf Reichsversammlungen scheinen

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unmittelbar einleuchtend zu sein: Da in der Regierung der Städte genossenschaftliche und kollegiale Organisationsprinzipien herrschten, war auch ein Gesandter, selbst wenn er im Rang eines Bürgermeisters stand, verpflichtet, über den Erfolg seiner Reise Rechenschaft zu legen. Dabei kamen ihm ausführliche Berichte zustatten. Da außerdem Ratsbeschlüsse in einzelnen Städten bereits während des frühen 15. Jahr-hunderts protokolliert wurden

„Protokollierte Ratsbeschlüsse“ sind aus Venedig, Siena ( RTA ÄR 10 S. XLIII), Florenz (Ausschußberatung 1434 XI 21 mit Voten der einzelnen Mitglieder, RTA ÄR 11 nr. 307 S. 564f.) und Zürich (reines Beschlußprotokoll von 1433 XI 17, RTA ÄR 11 nr. 75 S. 154) bekannt; weitere Beispiele (Literatur) bei H. O. Meisner, Archivalienkunde S. 209 Anm. 9. – Protokolle städtischer Gerichtsverhandlungen sind schon vom Beginn des 14. Jahrhunderts über-liefert ( Ruebel nr. 284: Wesel 1302).
, mochten die Stadt- oder Ratsschreiber, die den Reichstag besuchten, in ihrer sonstigen Übung und Gewohnheit Anregung finden, zumindest diejenigen Beschlüsse zu notieren, die Belange ihrer Stadt betrafen

Vgl. G. Wolf, Quellenkunde I S. 389f.
. Denn zum Protokollieren gehörte auch Fähigkeit und Technik, die, wenn sie in kleineren und geschlosseneren Gremien als der Versammlung der hohen Reichstände erworben war, auch auf höhere Ebenen korporativer Willensbildung wie die Reichsversammlung übertragen werden konnte.
Aber es wurde nicht nur in den Reichsstädten früh Protokoll geführt: Während der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts begann man in den Domkapiteln, deren bischöf-liche Herren die Reichstage zum Teil persönlich besuchten, mit der Protokollierung der Kapitelssitzungen

In Konstanz 1432, in Mainz 1450, in Köln 1461, in Augsburg 1462, in Speyer 1500, in Worms 1544 ( Lenhart S. 132f., M. Krebs, Die Protokolle des Speyerer Domkapitels I S. VII). Vgl. auch G. Wolf, Quellenkunde II, 2 S. 171.
. Universitätsprotokolle knappster Art datieren bereits seit 1386

Aus Heidelberg, wobei Verluste der Protokollbücher in Rechnung zu stellen sind (E. Winkel-mann I S. VII, 13ff.). Vgl. H. Keussen, Die alte Universität Köln S. 138.
; auch die Protokolle der Ordenskapitel

Darüber G. Wolf, Quellenkunde I S. 256, 272.
und der Konzilien von Konstanz (1414–1418) und Basel (1431–1449)

Auf dem Reformkonzil von Basel war aber die Protokollführung noch nicht verfassungsmäßiger Brauch der Konzilskongregationen, sondern hing von der Anwesenheit eines protokollierenden Notars in den Sitzungen ab ( G. Wolf, Quellenkunde I S. 92–94, 63–67). Deshalb verdienen diese Konzilsprotokolle, die während der Sitzungen angefertigt und in ein gebundenes Heft (Kladde) eingetragen wurden, noch nicht den Namen „offizieller“ Konzilsprotokolle ( RTA ÄR 10 S. LI X f.).
konnten für die zunehmende Schriftlichkeit bei den Reichstagsverhandlungen von Einfluß sein. Auch auf Reichsebene wirkte ein genossenschaftliches Prinzip, wie es in den Städten und Kapiteln, auf den Konzilien und bei den Landständen in Geltung stand: Weltliche und kirchliche Korporationen, die im 15. Jahrhundert – oder bereits früher – ihr Handeln in Protokollform auf-zeichnen ließen, besaßen Vertretung auf Reichstagen. Gebildete Kleriker versahen nicht nur in den Städten, oft bis zur Reformationszeit, das Amt des Ratsschreibers und in den Kapiteln die Rolle des Sekretärs, sie traten auch als Gesandte oder als Ge-folge am Reichstag auf.
Die Wandlung des Reichstags vom Fürstentreffen zum Gesandtenkongreß, die sich nach 1500 verstärkt vollzog, machte für alle Stände, nicht nur für die Reichsstädte,

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eine ausführlichere Berichterstattung vom Reichstag notwendig. Wenn der Reichsadel nicht mehr selbst am Reichstag die Entscheidungen traf und dort die Beratungsgegen-stände kennenlernte, mußte er darauf sehen, seinen Gesandten genaue Instruktion zu erteilen und von ihnen ausführliche Relation über alle getätigten Geschäfte zu erhalten; Berichte über stattgehabte Verhandlungen fanden Aufnahme in die brieflichen Akten, die vom Reichstag nach Hause übersandt wurden.
Darüber hinaus wurde die Erstellung von Reichsratsprotokollen durch zwei allgemein-geschichtliche Entwicklungen gefördert: durch den Humanismus und durch die Refor-mation. Bereits um 1450 sahen humanistisch gebildete Räte im Reichstag ein ge-eignetes Forum, die Kunst der schönen Rede zu üben

Ein frühes Beispiel ist die doppelte Wiedergabe der Reden auf der allgemeinen Schlußsitzung des Reichstags von Regensburg 1454 V 21 in Form einer „amtlichen Niederschrift“ und einer Dar-stellung des Bf. Enea von Siena ( RTA ÄR 19, 1 nr. 37 S. 282–286, 288ff.); über den Einfluß des Humanismus allgemein Schubert S. 159–190.
. Man schätzte oratorische Leistungen so hoch ein, daß man sie in ihren Einzelheiten aufzeichnete und so der Nachwelt übermittelte.
Den letzten äußeren Anstoß zur Anfertigung ausführlicher Protokolle aus dem Kurfürstenrat scheint die Reformation gegeben zu haben. Jedenfalls treten die ersten, über Beschlußnotationen hinausgehenden Kurfürstenratsprotokolle, soweit sich dies anhand der gedruckten Akten nachweisen läßt, im Zeitalter der Reformation auf. Zu dem bereits angeführten Protokoll der kurfürstlichen Unterredung vom Nürnberger Reichs-tag 1524 mögen noch die oben genannten Gründe geführt haben: kollegintern das Wahlrecht der Kurfürsten, ihre Sonderverpflichtung zu Rat und Hilfe, die kur-mainzische Verwaltung der Reichskanzlei und die Rangordnung im Kolleg, extern das Vorbild der Städte und der geistlichen Genossenschaften, die Anwesenheit schreib-gewohnter Reichstagsteilnehmer, der Übergang vom Fürstentag zum Gesandtenkon-greß und die gelehrte Neigung zu den „artes“. Aber das erste gedruckte Mainzer Kurfürstenratsprotokoll, das Voten enthält

1542 VIII 3/4 (Nürnberger Reichstag). Druck: UuA Burgund. Kreis I nr. 273 S. 180f.
, steht nicht isoliert in seiner Epoche.
In das mehrbändige Werk der Acta Reformationis Catholicae

Mitgeteilt von G. Pfeilschifter (Hrsg.) Bd. I-V.
sind viele protokollähnliche Schriftstücke aufgenommen worden. Sie bezeugen die Sammlungs-bewegung der altgläubigen Partei gegen die kirchliche Neuerung, die vor allem im süddeutschen Raum früh zu Konventen und Konferenzen führte. Die Zeugnisse über diese Tagungen reichen vom summarischen „Rahmenbericht“

ARC I nr. 44 S. 172–174 (fortlaufender Bericht des Salzburger Rats Dr. Nikolaus Ribeisen über Beschlüsse und Handlungen der Salzburger Konferenz 1523 XI). Vgl. das „Diarium der Gesandten des jülicher Herzogs“ 1540 XII 4–20, Worms ( ARC III nr. 100 S. 291–298).
über Abschiede und Rezesse bis zu Beschluß- und Verlaufsprotokollen. Es hatte zwar lange vor der Reformation genossenschaftliches Handeln gegeben, das protokollähnliche Akten schuf, aber es ist doch auffallend, daß zugleich mit der Herausbildung einer katholischen Partei unter den Reichs- und Landständen seit 1522 eine verstärkte Produktion protokollähnlichen Schriftgutes einsetzte. Vermehrter Anfall von Akten über münd-liche Verhandlungen ist nicht nur aus dieser Zeit kirchlicher Umwälzungen bekannt:

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Während der Französischen Revolution produzierte allein der revolutionäre Stadtrat von Paris eine vielbändige Protokollreihe

Siehe oben [S. LIII Anm. 2] .
; die Aktivität der deutschen Revolution von 1848 hat in den Stenographischen Berichten der Frankfurter Nationalversamm-lung und des österreichischen Reichstags

Die Stenographischen Berichte aus der Paulskirche umfassen neun, die Verhandlungen des Reichs-tags in Wien 1848/49 fünf Bände.
sowie in den Protokollen und Verfassungs-entwürfen deutscher Landtage

Vgl. K. Hugelmann passim, sowie die Protokollreihe der Berliner Nationalversammlung.
reichen Niederschlag gefunden. Die institutions-bildenden Bewegungen und Kräfte dieser unruhigen Zeiten verstärkten den Schrift-verkehr und den Hang zur Dokumentation. Es kann zwar methodisch nicht gelingen, einen schlüssigen Kausalzusammenhang zwischen einer Quellengattung und dem ge-schichtlichen Leben herzustellen, das sie hervorrief, weil dieses Leben selbst nur in bereits geformten Quellen faßbar ist

J. G. Droysen, Grundriß der Historik §§ 21–36 S. 332–339, insbesondere § 34; ders., Texte zur Geschichtstheorie S. 61.
; dennoch mag die Annahme erlaubt sein, daß die Formmerkmale, die die Quellengattung der Reichsratsprotokolle des frühen 16. Jahrhunderts ausprägte, den Kampf der wirkenden Kräfte des Zeitalters wider-spiegeln.
Ähnlich wie bei den städtischen Reichstagsprotokollen des frühen 16. Jahrhunderts lassen sich auch bei den Protokollen altgläubiger Stände verschiedene Entwicklungs-stadien unterscheiden. Vorstufen der Protokolle sind zunächst die Relationen, dann die Abschiede oder Gutachten. Die Beratungsergebnisse einzelner Beratungen oder Beratungsphasen werden in selbständigen Schriftstücken festgehalten; sie bedürfen nicht mehr der Briefform, um quellenmäßig in die Welt zu treten. Solche Abschiede heißen Recessus sive conclusio eorum, quae tractata et consulta sunt in congre-gatione;

So der „Rezess“ des Mühldorfer Reformkonvents von 1522 V 31 ( ARC I nr. 13 S. 62–66) und der „Rezess“ der Speyerer Konferenz (Beratung des Eb. Matthäus von Salzburg mit seinen mitbischoven und deren Räten) von 1529 IV 24 ( ARC I nr. 204 S. 620).
sie sind zwar keine Relationen mehr, bilden aber erst die Vorstufe der Protokolle, da sie nur die Ergebnisse der Verhandlungen, nicht diese selbst festhalten. Gutachten und Abschiede können förmlich und feierlich ausgefertigt und in die rechts-gültige Form von Mandaten oder Verträgen gegossen werden wie z. B. die Reichs-abschiede. Mit dem ansteigenden Grad ihrer förmlichen Fixierung, ausdrücklichen Rechtsgeltung und Irreversibilität entfernen sie sich von der Form des Protokolls, zumal wenn sie den förmlichen Abschluß einer festgelegten Phase gesetzgeberischer Tätigkeit bilden. Die Ausarbeitung förmlicher Einzelgutachten kann aber zurück-treten, wenn Konsultationen, wie die der altgläubigen Stände auf regionaler und Reichs-ebene, eher situationsbedingt als rechtlich aufgegeben sind, wenn längere Konferenz-folgen eintreten und hochgestellte Instanzen fehlen, denen Gutachten übergeben werden müßten. Die Rezesse einzelner Beratungen werden dann in Gestalt eines „Rahmen-berichts“

Vgl. das „Protokoll über die Verhandlung des Episkopats mit den weltlichen Fürsten auf dem Passauer Fürstentag“ 1537 II 16/20 ( ARC II nr. 83 S. 371f.) und RTA JR 4 nr. 28 S. 217ff.
aneinandergereiht; der fortlaufende Bericht über die einzelnen Beratungs-ergebnisse vermittelt so selbst Einzelheiten über den Gang längerer Verhandlungen: Er führt ihre Kristallisationspunkte auf und gerät damit zum protokollartigen Zwischentext des Verhandlungsstranges in seiner Gesamtheit. An die Stelle poten-tieller Einzelgutachten treten Beschlußprotokolle. Die beiden Quellengruppen der Gut-achten/Abschiede/Rezesse einerseits und der Protokolle andererseits sind erst dann völlig zweifelsfrei zu unterscheiden, wenn der Rezess oder Ratslag nicht nur die beratenen Punkte mitteilt, sondern darüber hinaus Hinweise auf Reden, Äußerungen, Meinungen der Konferenz-teilnehmer zum Beratungsgegenstand enthält, d. h. wenn das Beschlußprotokoll wenigstens ansatzweise zum Verlaufsprotokoll geworden ist. Kommt es zur Ausbildung langer und unübersichtlicher Verlaufsprotokolle, so kann das notwendig gewordene Beschlußprotokoll selbst wieder zum „Abschied“

So das Beschlußprotokoll der Neusser Konferenz 1535 XII 29 – 1536 I 7 ( ARC II nr. 51 S. 133–136). – Reine Beschlußprotokolle mit Datum, Präsenz, knapper Inhaltsangabe des zu beratenden Eingangs und mit Beschluß sind die Protokolle der Propagandakongregation in Rom Acta SC de PF). Diese Beschlußprotokolle sind aber nicht Abschiede zu nennen, obwohl sie nur bei der (seltenen) Anwesenheit des Papstes dessen Stellungnahme und mögliche Erwiderungen enthalten. Sie informieren, wie z. B. auch die teilweise „knappe(n) Beschlußprotokolle“ der Zentrumsfraktion ( Morset S. XXV), über die Abfolge interner Beratungen.
werden: Das Protokoll ist ein Ergebnis der Ausdifferenzierung von Schriftgut, es tritt langfristig neben die Gutachten bzw. Abschiede, ersetzt sie aber nicht.
Der Übergang vom Rezess zum Beschluß- und danach zum Verlaufsprotokoll, der sich im Lauf der katholischen und gemischtgläubigen Ständekonferenzen und Reli-gionsgespräche zwischen 1522 und 1541 vollzieht, läßt sich an bestimmten formalen Eigentümlichkeiten greifen, die später auch bei den Kurfürstenratsprotokollen anzu-treffen sind. Zunächst wird der Ratschlag, das consilium einer consultatio, mit Actum-Vermerk versehen. Dann wird eine Präsenzliste der Persönlichkeiten, die an den consulta teilgenommen haben, hinzugefügt

Vgl. die Protokolle der Salzburger Konferenzen 1523 XI 16 (ARC I nr. 47 S. 176–178), 1542 I 7–12 (ARC II nr. 182 S. 720–723), das Consilium in re Lutherana 1523 XI (ARC I nr. 50 S. 183f.); zum „Actum“ H. O. Meisner, Aktenkunde S. 55.
und Vorsorge für die dokumentarische Echtheit getroffen. Schließlich entwickelt sich, weil besonders wichtige Themen behan-delt werden und man die einzelnen Meinungsäußerungen schriftlich festhalten will, das Verlaufsprotokoll.
a) Präsenz: Im Unterschied zu den in Mandatsform gebrachten Gutachten, etwa den Reichsabschieden, werden die Protokolle von den Konferenzteilnehmern nicht förmlich (vertretungsweise oder eigenhändig) unterschrieben; die Beteiligten sind aber – in der Regel am Anfang des Protokolls – namentlich aufgeführt: Dies ist der Präsenzvermerk. Im Unterschied zu den Abschieden, beispielsweise den Reichsab-schieden, steht die Vollmacht des am Verhandlungsakt teilnehmenden Vertreters eines Herrn (wie bei Unterfertigung eines Abschieds etwa des Subskribenten) nicht von vornherein rechtskräftig fest. Die Erörterung des Problems, ob dieser oder jener anwesende Vertreter handlungsbefugt, d. h. mit rechter Vollmacht versehen sei, im Namen seines Herrn zu sprechen, und „Plenipotenz“ besitze, um bindende Beschlüsse zu fassen, gehört selbst in das Protokoll hinein. Das Problem der Vollmacht kann

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selbst Thema der Konferenz werden und verdient dann, vor allem im Hinblick auf zu fassende, alle Konferenzteilnehmer bindende Beschlüsse, ausführliche Protokollierung

Vgl. Beratung der bischöflichen Vertreter von Freising, Regensburg, Passau 1531 II 8 auf dem Kreistag zu Regensburg ( ARC I nr. 214 S. 650–652), Protokoll der Speyerer Konferenzbischöf-licher Vertreter aus verschiedenen Bistümern 1529 IV 13 ( ARC I nr. 203 S. 619).
.
b) Dokumentarische Echtheit: Da zum Wesen frühneuzeitlicher Stände-protokolle nicht die förmliche Unterschrift der Teilnehmer oder des/der Protokollanten hinzugehört, sondern der formlosere Präsenzvermerk, stellt sich für sie verschärft das Problem der Echtheit und Beglaubigung. Protokolle sind bereits in diesem frühen Stadium andere Dokumente als formell unterschriebene Briefe, Abschiede und Urkun-den, auf die man sich grundsätzlich berufen könnte; sie sind zunächst nicht die Schriftform für eine zweifelsfrei gegebene vertragliche Verpflichtung. Dies schließt aber keineswegs aus, daß die Protokollanten sich um die getreue Wiedergabe des Gesprochenen bemühen. Im „Mainzer Präsidialprotokoll des Wormser Gesprächs-tages“

1540 XI 19 – 1541 I 18 ( ARC III nr. 99 S. 196–291).
wird den protokollierenden Notaren (Doktoren) anempfohlen, ihre Notizen miteinander zu collationiren und jder dem andern seine acta zu subscri-birn

Die „Vollziehung“ des Protokolls mittels Unterschrift der Parteien (darüber F. Küch S. XXXIV) ist aber noch kein konstitutives Merkmal des frühneuzeitlichen Protokolls (anders Vernehmungsprotokolle).
. Sie und ihre Substitute nehmen es auf ihren Eid, alles Vorgebrachte sorg-fältig aufzuzeichnen, ire bucher und prothocolla nur den Gesprächsteilnehmern zur Kopie zu überlassen und die originalia aufzubewahren

Die Substitute (Sekretäre) hingegen sollen zunächst nur ausschreiben, was ihnen befohlen wird ( ARC III nr. 99 S. 225f.). Über die Eidesleistung protokollierender Domkapitelsekretäre vgl. F. Herrmann S. XII, über das Problem der Vertraulichkeit bei Protokollen aus der Zeitgeschichte Morsey S. XXVIII.
. Im Unterschied zum Brief bleibt das Original bei Händen und wird gerade nicht zur Expedition frei-gegeben.
c) Thematik und Votum: Mit der Notierung von Einzelvoten der Konferenzteilnehmer ist der erste Schritt hin zum vollständigen Verlaufsprotokoll vollzogen; der stenographische Bericht über Parlamentsreden im 19. Jahrhundert bedeutet gegen-über dem frühen protocollum votorum nur eine letzte Ausformung. Die Anfänge des Votenprotokolls, die bei den bischöflichen Beratungen um 1529 – und vorher schon bei den Wahlprotokollen und bei den Protokollen über Städte-Konferenzen – zu beobachten sind, bestanden darin, daß abweichende Meinungen bestimmter Ver-treter zu einem Beratungspunkt aufgeschrieben wurden

Siehe die „Nota“ von Passau und Freising auf dem Regensburger Kreistag von 1531 ( ARC I nr. 214 S. 651) sowie das Protokoll der Salzburger Konferenz 1542 I 7–12 ( ARC II nr. 182 S. 723).
; diese abweichenden Mei-nungen bei fast erreichter Einmütigkeit wurden zunächst mehr angemerkt als breit dargelegt. Es gab formal zwei Grundmöglichkeiten, die allerdings miteinander kom-biniert werden konnten, die Sondermeinungen zur Niederschrift zu bringen: Entweder gab der Protokollant die Beschlüsse zu den einzelnen Artikeln in der Reihenfolge der Proposition wieder, diese sachliche Gliederung ließ nur knappen Raum für die Ein-fügung divergierender Ansichten

Siehe ARC I nr. 203 S. 618f. (1529), ARC IV nr. 225 S. 549–558 (Protokoll der Salzburger Bischofskonferenz 1545 IX 19/20), A. Seifert (Bearb.), Die Universität Ingolstadt S. 38–56, 94–99, 111, 142–145, 209, 238, 316f.
; oder die Voten der einzelnen Konferenzteilnehmer zum Gesamtkomplex der Proposition wurden hintereinander aufgeführt: Die Reihen-folge in der Abgabe der Voten wurde zur Grundlage für die Gliederung des Protokolls

Voneinander abgesetzte Voten der Jülicher und der Kurkölner Räte im Protokoll der Neusser Konferenz 1535 XII 29 – 1536 I 7 ( ARC II nr. 52 S. 136–138) und der Kölner Konferenz 1537 I 16 ( ARC II nr. 60 S. 169–174).
.
Die Aufschreibung von Einzelvoten setzte voraus, daß die Thematik der behandelten Sachen von hohem Interesse war. Die Themen mußten aus der Perspektive eines oder mehrerer Konferenzteilnehmer oder aber – später – einer interessierten Öffentlich-keit

Im Kurfürstenrat wandte man sich noch 1645 gegen den Raubdruck von Sitzungsprotokollen in Post-Zeitungen (siehe unten [Nr. 39] S. 240). Auf dem Immerwährenden Reichstag wurden dann die Reichsprotokolle durch Kurmainz und Kursachsen (für das Corpus Evangelicorum) diktiert und teilweise gedruckt (vgl. J. J. Moser, Teutsches Staatsrecht). Der Deutsche Bundestag nach 1816 unterschied zwischen Separatdruck loco dictaturae für die Bundesmitglieder und einer Quartausgabe für die Öffentlichkeit. Die Veröffentlichung sollte tendenziösen Presseberichten über Bundestagssitzungen entgegenwirken. Eine letzte Stufe war der – 1848/49 geübte sofortige und vollständige Druck stenographischer Berichte zur Unterrichtung des Volkes ( H. O. Meisner, Die Protokolle des Deutschen Bundestages S. 2–14, 12f.).
für so wichtig erachtet werden, daß man die Meinungsäußerungen darüber in extenso mitschrieb und aufbewahrte. Zu den Entstehungsbedingungen des Votenproto-kolls gehört ein zumindest im Ansatz vorhandenes Publikum, auch wenn es zunächst nur aus den Mitgliedern der verhandelnden Genossenschaft besteht

Beim Marburger Religionsgespräch wandte sich Luther gegen die Führung eines offiziösen Proto-kolls, weil er den „vertraulichen Charakter“ der Unterredung wünschte ( G. Wolf, Quellenkunde II, 1 S. 254). Bei den Protokollen des österreichisch-ungarischen Gemeinsamen Ministerrats (1914) durften laut Mitteilung des Protokollanten gewisse vertrauliche Nachrichten nicht in das Protokoll aufgenommen werden ( Komjáthy S. 95f.: Insofern sei das Protokoll eine „negative Quelle“, die, eine Spur vom Verschwiegenen enthaltend, über das Verschweigenswerte indirekt Auskunft gebe).
. Neben dem Inte-resse und dem informationsberechtigten Publikum wird eine weitere Bedingung der nach Voten gegliederten Protokollführung die Reflexion auf gesteigerte Verantwort-lichkeit der einzelnen Genossenschaftsglieder für zu fassende Beschlüsse. Ein Bewußt-sein für Autonomie und Selbständigkeit tritt hervor. Bei der Spaltung des alt-gläubigen Lagers, die während der Wormser Religionsgespräche 1540 eintritt, be-gründen Pfalz, Brandenburg und Jülich den Wert ihrer Einzelstimm-Abgabe unter Berufung auf das Hagenauer Religionsgespräch: Dort sei vorgesehen worden, daß die katholische und die evangelische Seite christlich freuntlich miteinander reden sollten; da eyns jeden votum oder stym yhe fry und unverbonden sei, könne im Falle einer ausbleibenden Einigung der abweichende Stand seine Meinung übergeben, wie er es vor Gott, der Welt und seiner Obrigkeit verantworten zu können hoffe

„Diarium der Gesandten des jülicher Herzogs“ 1540 XII 18 ( ARC III nr. 100 S. 294f., 291–298). Zur gesteigerten Bedeutung der Visitationsprotokolle während der Reformation G. Wolf, Quellenkunde II, 1 S. 1, 7–10, 13, II, 2 S. 120.
. Es liegt auf der Hand, daß die wichtige religiöse Thematik nicht nur gegensätzliche Stellung-nahmen unter den Gesprächspartnern auslöste, sondern auch die Aufzeichnung der Einzelvoten von Pfaltz, Meintz und Strassburg sowie die Anfertigung zweier Protokolle, eines katholischen kurmainzischen und eines evangelischen kurpfälzischen, begünstigte

Das „Mainzer Präsidialprotokoll“ von 1540 XI 19 –1541 I 18 ( ARC III nr. 99 S. 196–291) informiert über den Gesprächsverlauf (Einzelmeinungen, Bedenken), über die Präsenz ( ebd. S. 207, 216), über Mehrheitsbildung ( ebd. S. 260).
. In auffälliger zeitlicher Nähe zu den Protokollen vom Wormser Ge-sprächstag 1540/41 steht das ebenfalls Voten aufweisende Mainzer Kurfürsten-ratsprotokoll von 1542

Nürnberger Reichstag 1542 VIII 3/4 ( UuA Burgund . Kreis I nr. 273 S. 180f.); das Pro-tokoll davor (1542 VII 29/30, ebd. nr. 272 S. 180) führt bereits die Räte von Kurmainz, Kursachsen, Kurbrandenburg als Handelnde auf.
, dem gleichartige Protokolle aus dem Kurfürstenrat der Reichstage von Speyer (1544) und Worms (1545)

Teildrucke UuA Burgund . Kreis I nr. 330 S. 245f., nr. 346 S. 257–259, nr. 349 S. 261f., nr. 359 S. 267, nr. 363 S. 269f., nr. 370 S. 285f. (1544 VI 7 – 1545 VII 27).
, von Augsburg (1547

1547 IX 3 – X 8 ( ARC V nr. 32 S. 87–107), 1547 X 18–26 ( ebd. nr. 48 S. 138–148). Vgl. ebd. nr. 33 S. 107f. bayerisches Fürstenratsprotokoll 1547 IX 3, 5 (2 Voten).
und 1548

UuA Burgund. Kreis I S. 313 und 1549 (ARC V).
) folgen. Themen dieser ersten Votenprotokolle sind die burgundische Frage, also staatsrechtliche Probleme der Reichszugehörigkeit, und die Glaubensspaltung.
Spätestens seit 1542 sind also im Kurfürstenrat des Reichstages protocolla votorum geführt worden. Sie bilden die Grundform der hier edierten Kurfürstenratsprotokolle vom Westfälischen Friedenskongreß, nur daß die ursprünglich kurzen Voten-No-tierungen 1645 an Umfang gewaltig zugenommen haben und zum Teil viele Folioseiten füllen. Dies ist aber keineswegs erst das Resultat der Entwicklung eines Jahrhunderts; bereits 1551, ein knappes Jahrzehnt nach dem ersten bisher ermittelten Votenpro-tokoll aus dem Kurfürstenrat, haben die kurfürstlichen Voten vom Passauer Tag eine erhebliche Länge.

Vgl. UuA Burgund. Kreis II nr. 489 S. 55ff.
Dennoch wird sich das protocollum votorum im Kurfürstenrat eher allmählich als schlagartig durchgesetzt haben. Vor und neben den ersten Votenprotokollen existieren nämlich weiterhin kurmainzische Beschlußprotokolle aus dem Kurfürstenrat. Noch 1647 bis 1649 sind von einzelnen, minder wichtigen Kurfürstenratssitzungen aus der Mainzer Kanzlei nur Beschlußprotokolle erhalten. Diese Vorstufe des protocollum votorum ist bereits ein echtes Protokoll. Es bildet gegenüber den Gutachten des Kurkollegs ein selbständiges Schriftstück

Vgl. die Kurfürstenratsgutachten 1541 VII 4 ( ARC III nr. 118 S. 379, nr. 122 S. 388f.), 1547 IX 20, 30 ( ARC V nr. 37 S. 118–120, nr. 41 S. 124–126).
und enthält Aufzeichnungen über die Re- und Correlation, d. h. über den Austausch der Beschlüsse und Gut-achten der drei Reichsräte

Auch nachdem Voten notiert worden sind, wird der Meinungsaustausch der Kurfürsten mit Gemaine stendt, die Re- und Correlation, festgehalten (1547 IX 3, ARC V nr. 32 S. 87ff.). Reines Kurfürstenratsprotokoll über die Re- und Correlation: 1541 VII 2, 4 ( ARC III nr. 117 S. 378f.).
Kurfürstenrat, Fürstenrat und Städterat, die ihre An-sichten zum Reichsgutachten zusammentragen.

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Läßt nun die Entstehung eines ausführlichen Votenprotokolls darauf schließen, daß die Genossenschaft, die es hervorbringt, eine verfassungsrechtlich höhere Entwicklungs-stufe erreicht hat? Bezogen auf den inneren Zusammenhalt des Kollegs, muß die Antwort überraschend lauten: Nein. Die Aufschreibung oder Übergabe

Schriftliches bayerisches Votum im Fürstenrat 1541 VII 4 ( ARC III nr. 120 S. 385f.), kursächsisches Votum 1547 IX 30 ( ARC V nr. 40 S. 122f.).
von Einzel-voten wird notwendig, wenn in der beratenden Körperschaft abweichende Standpunkte zu Gehör gebracht werden sollen oder aber wenn ein Stand besonderen Einfluß aus-üben will: Vorher fraglose Einhelligkeit beginnt fragwürdig zu werden, gegen ein gemeinschaftlich verfaßtes Gutachten liegen von vornherein Vorbehalte in der Luft, kurzum, eine Art von Opposition entsteht

Protokolle über die gegensätzliche Kollektiv-Äußerung zweier Parteien (als solche prinzipiell auch die Re- und Correlation aufzufassen): Molsheimer Tag 1542 X 18 (Bistum contra Stadt Straßburg, ARC IV nr. 37 S. 191–193), Wormser Tag 1540/41, wo sich die Kurfürstlichen der gemeinsamen Beratung mit den katholischen Fürstlichen widersetzen ( ARC III nr. 99 S. 229, vgl. nr. 100 S. 293, 297), Spaltung des Kurfürstenrats zwischen Sachsen, Pfalz, Brandenburg und Mainz, Trier, Köln 1548 I 17–30 ( ARC V nr. 57 S. 172–187).
, die ein Forum für das Austragen der Gegensätze braucht. In den früheren Beschlußprotokollen des Kurfürstenrats über die Re- und Correlation liegt der Akzent gerade auf dem geschlossenen Handeln des Kollegs gegenüber den konkurrierenden Kurien; nur das gemeinschaftliche Auftreten scheint der Protokollierung würdig. Das protocollum votorum ist aber ein Anzeichen dafür, daß der Zusammenhalt der protokollführenden Genossenschaft auf die Probe gestellt ist und die sichere Aussicht auf Einhelligkeit weicht. Die Einzel-äußerungen werden im Rahmen einer Auseinandersetzung wichtig, die das Interesse, die Eigenverantwortung der Genossen und eine zunächst begrenzte Öffentlichkeit

Siehe oben [S. LXII Anm. 3] . Die wechselseitige Beziehung zwischen Protokollführung und Öffent-lichkeit gestand auch der erste Frankfurter Demokratenkongreß ein. Er beschloß, ein publikations-fähiges „offizielles Verhandlungsprotokoll“ nicht vorzulegen, sondern lediglich seine Beschlüsse „zur öffentlichen Kenntnis zu bringen“, weil die Versammlung sich „auf dem Boden der revo-lutionären Praxis bewege“ (zit. nach G. Becker, Das Protokoll des ersten Demokratenkon-gresses vom Juni 1848 S. 386).
einbeziehen: Das Votenprotokoll bezeugt den Übergang zur vorparlamentarischen Debatte, repräsentiert die vorparlamentarische Öffnung einer vorher geschlossenen Genossenschaft, die die Präliminarien ihrer Beschlüsse bislang in völliger Vertrau-lichkeit abgewickelt hatte. Die Verantwortlichkeit des Gesandten gegenüber seinem Auftraggeber wirkt umformend auf die Beratungstechnik innerhalb der Kollegien ein. Durch Schriftlichkeit gewährleistete Nachprüfbarkeit tritt an die Stelle insta-biler Vertraulichkeit, die allerdings jederzeit ex post revozierbar war. Auch die kurfürstlichen Beschlußprotokolle über den Umgang der drei Kurien miteinander beleuchten bereits eine vorparlamentarische Öffnung des Reichstags, die wiederum genetisch vor der Offenlegung kolleginterner Auseinandersetzungen liegt. Die Notie-rung der drei Kollegialbeschlüsse der Kurfürsten, Fürsten und Städte, die im 17. Jahr-hundert noch Voten genannt werden

Vgl. etwa den Sprachgebrauch: votum decisivum der Reichsstädte, aber auch – in der Staats-rechtsliteratur und in den Akten: Votum der Kurfürsten ( Staricius S. 26), Vot(um) Caesarei et vot(um) statuum ( Kornmann cap. 5 § 13).
, macht die Aufteilung der Reichstagsgenossen

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auf drei kompetierende Gruppen/Kurien deutlich. Bereits die kurmainzischen Be-schlußprotokolle über die Re- und Correlationen sind – allerdings noch gruppen-bezogene – Votenprotokolle mit dem angedeuteten spezifischen verfassungsrechtlichen Hintergrund einer beginnenden Auflösung und Umbildung mittelalterlich geschlos-sener Genossenschaft.

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