Acta Pacis Westphalicae III A 1,1 : Die Beratungen der kurfürstlichen Kurie, 1. Teil: 1645 - 1647 / Winfried Becker
I. Protokolle als Geschichtsquelle
Das neuzeitliche Schriftgut der Protokolle, genauer gesagt der „Verhandlungs-“ und „Sitzungsprotokolle“
H. O.
Meisner,
Archivalienkunde (1969) S. 194–197 und die Definitionen in der archivarischen Begriffssprache bei F.
Wolff (APW
III A 4, 1 S. XXXII ff.), L.
Gross,
Geschichte der deutschen Reichshofkanzlei S. 240ff.
, hat bisher in der Urkunden- und Aktenlehre relativ wenig Beachtung gefunden und ist auch in den Quelleneditionen der historischen Wissen-schaft nicht eben häufig berücksichtigt worden. Hinter diesem bekannten Sachverhalt steckt mehr als nur bloßer Zufall, er bezeichnet mehr als ein Desiderat der Forschung oder das isolierte Spezialproblem einer historischen Hilfswissenschaft. Es handelt sich vielmehr um eine Tatsache, die mit der Entwicklung der historischen Forschung und der diese begleitenden Aktenkunde und Diplomatik selbst zusammenhängt und die als solche historisch zu erklären ist. Bei der kurzen quellenkundlichen Einordnung und Herleitung der Kurfürstenratsprotokolle, die im Folgenden versucht wird, geht es deshalb nicht allein um die Beschreibung äußerlicher Phänomene, an der lediglich kleine Kreise der historischen Fachgelehrten ein esoterisches Interesse fänden.
Die staatlichen und die meisten, in allgemeinerem Sinne politischen Schriftstücke, die wir als Quellen benutzen, sind Erzeugnisse von Amtspersonen oder Institutionen, die sie hervorbringen. Schon die formale Betrachtung dieser materialen Substrate des Geschehens, und zwar gerade die Untersuchung der historischen „Überreste“, nicht erst diejenige der „Tradition“
Zur Unterscheidung A. V.
Brandt,
Werkzeug des Historikers (
71973)
S. 51–64.
, läßt Rückschlüsse auf Konstanz und Entwicklung der Institutionen zu, deren Geist und Technik sich in ihnen niedergeschlagen haben. Ministerielle Gegenzeichnung auf Urkunden, monarchische Sanktion von Protokollen eines Ministerrats, solche Formalitäten sind geeignet, verfassungsgeschichtliche Wandlungen, wie Ansätze zur Herausbildung des Konstitutionalismus oder Rückfälle in die absolutistische Regierungspraxis, augenfällig zu dokumentieren
So
H.
Rumpler (Hrsg.) im Einleitungsband zu den Protokollen des österreichischen Minister-rates 1848–1867 S. 11, 93, 104f.: Die Untersuchung der Form, nicht nur des Inhalts der Pro-tokolle erscheint gleichbedeutend mit der „Veranschaulichung und Erläuterung eines Macht- und Rechtsverhältnisses“.
. Aber auch das Kategoriensystem, das die Forschung zur Sichtung einzelner Quellen und Quellen-gruppen bereitstellt, der Grad der Wertschätzung, den einzelne Forscher bestimmten Quellengattungen entgegenbringen, gewähren mittelbar Einblick in die Zeitgebunden-heit des wissenschaftlichen Selbstverständnisses, das letztlich wieder auf die Kräfte der Beharrung und der Wandlung in Staat und Gesellschaft zurückweist.
Als der Mediävist
E.
Winkelmann 1886 Heidelberger Universitätsakten edierte, berücksichtigte er auch die „aufzeichnungen über die einzelnen berathungen“, die „protokolle der universitätskongregation“, fand sie aber nur insoweit bemerkenswert, als sie „auszüge oder abschriften vieler sonst nicht mehr vorhandene(r) dokumente“ enthielten, die „eingereiht“ oder angehängt waren: „statuten, urkunden, aktenstücke
[p. XLIV]
[scan. 44]
aller art und briefe“
E.
Winkelmann
(Hrsg.), Urkundenbuch der Universitaet Heidelberg I S. VII.
. Dieses ungünstige Urteil bezog sich hier auf den Sonderfall der Universitätsprotokolle, es war aber für die Einschätzung der gesamten Quellengruppe der Protokolle gewissermaßen symptomatisch. Ihr Aussagewert wurde als relativ ge-ring erachtet, schienen sie doch minder aufschlußreiches Material als die anderen Aktenformen zu umfassen – in der Hauptsache Aufzeichnungen über Dinge, die die Zeitgenossen nicht direkt „aktenwürdig“ gefunden hatten
M.
Krebs (Hrsg.), Die Protokolle des Konstanzer Domkapitels, in: ZGOrh 100 S. 128.
; sie mochten als Ersatz oder zur Ergänzung der brieflichen Akten, die allein dokumentarischen Wert besäßen, herangezogen werden. Gemessen an dem Gesamt an Aktenarten und -überlieferungen maß man den Protokollen nur subsidiäre Funktion für die historische Erkenntnis zu. Wie kam es zu diesem abschätzigen Urteil?
Man muß zunächst bedenken, daß für die Diplomatik die Akten gegenüber den Urkunden ein Schriftgut minderen Ranges darstellten; Urkunden waren die eigentlich maßgeblichen Quellen mit dem höchsten, konzentriertesten, am besten beglaubigten Gehalt an geschichtlicher Aussage
H. O.
Meisner, Aktenkunde (1935) S. 8f. setzt die Grenze zwischen Urkunden- und Akten-zeit auf 1400. Etwa von dieser Zeit an (Regierungsantritt des Kg. Wenzel 1378) werden die Quellen der Reichsgeschichte auch in die Deutschen Reichstagsakten und nicht mehr in die Monu-menta Germaniae Historica aufgenommen.
. Denn die ältere Urkunden- und Aktenlehre war in erster Linie auf das Mittelalter, und zwar besonders auf die Geschichte seiner Kaiser und Könige, ausgerichtet gewesen. Aus dieser wenig schreibfreudigen Zeit waren von der oberen Regierungsebene, die hauptsächlich interessierte, vor allem Ur-kunden (Privilegien, Schenkungen, in Urkundenform beglaubigte Weistümer) über-kommen, die nur bedeutsamere Geschehnisse durch Schriftlichkeit erhellten. Erst im Spätmittelalter sind auf Reichsebene Protokolle anzutreffen, zunächst nur in der Vorform von knappen „Aufzeichnungen über den Haupthergang“, von „Kanzlei-notizen oder von Notariatsinstrumenten“
RTA ÄR 1 S. LVI (
Weizsäcker), nr. 45 S. 71f. (Wahlinstrument), protokollähnlich auch nr. 184 S. 327f. (1381 XI 14), nr. 301 S. 546f. (1387 III 20), nr. 321–323 S. 584ff. (städtische Gutachten 1387).
(vor allem über Wahlen). Protokolle von Universitätsgremien, Klöstern, Domkapiteln, Stadträten und Konzilskongregationen existierten zwar schon in dieser Zeit, konnten aber als sozusagen informelle Zeug-nisse ihrer Institutionen kein allgemeineres Interesse erwarten und galten infolgedessen als weniger editionswürdig. Bereits für die frühe Neuzeit schwoll nun das hinter-lassene Schriftgut gewaltig an; vor allem in den Stadtarchiven fand sich über die Verhandlungen des Reichs, seiner hohen Regenten und Stände, eine Fülle reichhaltigen Materials; das Urkundenzeitalter wurde vom Aktenzeitalter der Neuzeit abgelöst, statt der Zeugnisse über das abschließende Rechtsgeschäft, statt der Urkunden, domi-nierten nun die unjuridischen Bezeugungen der Hergänge, die zu den Rechtsgeschäften geführt hatten, die Akten
Im Unterschied zu den Urkunden zeigen die Akten das Bedürfnis, „über die Motive einer Ver-ordnung klar zu sehen“, die dem „urkundlichen Abschluß einer Angelegenheit“ vorausgehen (
H. O.
Meisner, Aktenkunde S. 8).
. Das Überlieferungsproblem stellte sich damit neu. Hatte man bisher versuchen müssen, durch exakte Kombination urkundenmäßig und
[p. XLV]
[scan. 45]
chronikalisch belegter Aussagen politisches Geschehen im Mittelalter zu rekonstruieren und nicht-schriftliche Quellen ergänzend zu berücksichtigen, so galt es für die Neuzeit, aus der Masse des Stoffs das Wichtige und Wesentliche herauszuziehen und nur die entscheidenden Brennpunkte des Geschehens zu schildern. Die Konzentration auf Dokumente, die wesentlich zu sein schienen, war ursprünglich notwendig gewesen, weil die Überlieferung vieles im Dunkel gelassen hatte; sie wurde bei den Geschichts-schreibern, die in der Nachfolge
L. V.
Rankes standen, zum Auswahlprinzip. Auf der Suche nach dem roten Faden, der die Akten zu bewältigen half, ergab sich die Neigung, aus der Fülle des Überlieferten nur das wirklich Bedeutsame herauszu-greifen
Vgl. etwa die Dissertationen von K.
Breuer
(starke Konzentration auf die Instruktionen), H.
Brockhaus, E.
Dürbeck.
und auf seine individuelle historische Aussage hin zu interpretieren.
Dem Erfordernis solcher Interpretation kamen vor allem diejenigen Akten und Urkunden entgegen, die dem Geist ihres Urhebers die Ausformung, die Konzentration auf das Wesentliche verdankten und sozusagen in Selbstauslegung ohne viel zeitfremdes Hinzutun des Historikers von ihrer Situation und zugleich von ihrer Zeit Zeugnis ablegten. Vergleichsweise formlose Geschichtsquellen wie Verhandlungsprotokolle eigneten sich schwerlich für diese Methode, gehörten ihre Verfasser doch meist nicht zu den einflußreichen Persönlichkeiten ihrer Zeit und wiesen diese Akten selbst doch anscheinend keine Merkmale bewußter Durchbildung oder Spuren zeitgemäß-charakteristischer Formgebung auf. Die Vertiefung in unwesentliche Einzelheiten, die nicht wenigstens in Briefen oder Urkunden niedergelegt worden waren, drohte sogar von der eigentlichen Aufgabe abzulenken: Der Historiker mochte in der Gefahr stehen, sich in das Gestrüpp der vergangenen „Geschichten“ zu verlieren, statt zu zeigen, wie aus „Geschäften“ Geschichte wurde.
Vgl.
J. G.
Droysen, Grundriß der Historik, in:
ders., Historik (
2
1943) S. 322: „Das, was heute Politik ist, gehört morgen der Geschichte an; was heut ein Geschäft ist, gilt, wenn es wichtig genug war, nach einem Menschenalter für ein Stück Geschichte. Wie wird aus den Ge-schäften Geschichte?“
Die referierende Geschichts-schreibung, die wichtige Ereignisse in den Mittelpunkt stellte, nötigte ebenso wie die genetische Betrachtungsweise mit ihrer Schilderung der großen Zusammenhänge dazu, die sachlichen Auswahlkriterien für die Quellen durch formale Gesichtspunkte zu ergänzen
Vgl. dazu
E.
Bernheim, Lehrbuch der Historischen Methode I S. 22–41; S. 87ff. wird das Verhältnis der Geschichtswissenschaft zu den Nachbardisziplinen zuerst am Beispiel der Philo-logie erörtert. – Die folgenden Ausführungen verkennen natürlich nicht, daß die Forderung nach Heranziehung aller Quellen, nach Exaktheit im einzelnen, aus dem erst der allgemeine Gang der Geschichte abgeleitet werden dürfe, gerade vom Historismus aufgestellt worden ist.
. Das „Wesentliche“ einer „große(n) sittliche(n) Gestaltung“ wie des Staates war nur zu begreifen über die Aussonderung des Zufälligen; erst durch die Ausscheidung des „bloß Ephemere(n)“ kam bei Durchschreitung der „geschicht-lichen Sphären“ die „Erkenntnis der endlich in der Gegenwart erreichten, relativ höchsten Entwicklung“ zustande, „welche uns das Durchlebte subsummieren und verstehen ließ“
J. G.
Droysen,
Texte zur Geschichtstheorie (1972) S. 15, 13f.; vgl.
ders.,
Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, in:
ders.,
Historik (1943) S. 28f.
. War für den Historiker nur das „generelle Ich“ der „Persönlich-keit“, ihre Teilhabe an der – in einer „fortschreitenden Bewegung“ begriffenen – „sittlichen Welt“, von Bedeutung, so konnte dies nicht ohne Einfluß auf die quellen-mäßige Behandlung der Hinterlassenschaften solcher Persönlichkeiten bleiben. Inso-weit es dem „generellen Ich“ zugeordnet werden konnte, fand auch das zufällige „empirische Ich“ die Beachtung des Historikers; aus anonymen Geschichtsquellen wie Protokollen oder statistischen Aufzeichnungen war ein „empirisches Ich“ nur unter Schwierigkeiten oder gar nicht zu ermitteln. Mochten diese Quellen nicht erst in zweiter Linie Objekte sein für den „menschlichen Geist“, der in der Begegnung mit den sittlichen Mächten der Vergangenheit sich selbst auf einer niedrigeren Stufe und damit zugleich als fortschreitend erkannte? Selbst wenn es ohne nationale oder universalgeschichtliche Konjekturen nur das vergangene Leben zu erfassen galt, das aus den „toten Papieren“ aufstieg
Zit. nach
Repgen,
Kurie I, 2 S. VI.
: die Vergangenheit sprach nicht aus allen Papieren gleich unüberhörbar. Die Auswahl der sprechenden Akten aus der Fülle des toten Stoffs mochte einen großen Rest um so sicherer dem Vergessen überliefern.
Wie waren nun die Wertungskategorien inhaltlich bestimmt, die es ermöglichten, den historischen Prozeß auf seine „wesentlichen“ Entwicklungen hin vorzustrukturieren oder zu überprüfen und gleichzeitig eine entsprechende Vor-Auswahl unter historischen Quellengattungen zu treffen? Das nationale Geschichtsverständnis, an das hier zu-nächst zu denken ist, hat sich im 19. Jahrhundert auf die Edition neuzeitlicher Protokolle keineswegs nur ungünstig ausgewirkt. Von 1889 bis 1917 gab
Otto
Meinardus sechs Bände „Protokolle und Relationen des Brandenburgischen Geheimen Rates aus der Zeit des Kurfürsten Friedrich Wilhelm“ heraus
Publicationen aus den K. Preußischen Staatsarchiven 41, 54, 55, 60, 80, 89, Bd. 1–6.
; bereits elf Jahre früher hatte man in Schweden mit der Edition der schwedischen Reichsrats-protokolle (von 1621 bis 1650) begonnen
1878–1916, besprochen von
Meinardus, Protokolle VI (Die „Protokolle“ als Geschichts-quelle) S. XII.
. Die Aufarbeitung anonymer Quellen-gruppen der eigenen Nationalgeschichte konnte indes nur dort zureichend begründet werden, wo ein Territorium nicht untergegangen war, d. h. in Deutschland die Säkularisation überstanden und ein nationales Selbstbewußtsein entwickelt hatte: Der national verstandenen historischen Individualität schienen auch die abgelegeneren Zeugnisse ihres Wachsens und Werdens bedeutungsvoll. Die Vorstellung einer geschichtlichen Einheit Preußen-Deutschlands, in der die historische Existenz und der politisch wirtschaftliche Aufstieg des preußischen Staats mit tragenden Zeitideen verschmolzen, erwies sich als fruchtbare Arbeitshypothese; doch der geschichtsphilo-sophische Entwicklungsgedanke, der, fasziniert von der Höhe gegenwärtiger Staats-bildung, nur nach bestimmten Vergangenheiten fragte, wirkte auch verdrängend: das Wissen um die Vielzahl untergegangener oder gleichsam subkutan weiterlebender Institutionen und ihrer Zeugnisse wurde zu einer historischen Kenntnis zweiten Grades.
Auch verfassungspolitische Auffassungsweisen wirkten auf diese negative Klassifizie-rung des Protokoll-Schriftguts ein. Als
L. v.
Ranke die diplomatischen Berichte
[p. XLVII]
[scan. 47]
der Venezianer entdeckte und als erster auswertete, fand er nicht nur in ihrer „humanistischen und künstlerischen Stilisierung“
F.
Schnabel,
Deutschlands geschichtliche Quellen I S. 134.
eine besonders aussagekräftige Eigentümlichkeit.
Ranke empfand „den besonderen Geist“ der Venezianischen Relationen „als einen seiner eigenen Zeitstimmung verwandten“
; der konservative Historiker trug damit bestimmte inhaltliche Erwartungen seiner eigenen politischen Perspektive an die Geschichtsquellen seiner Wahl heran: „Diese Venezianer betrach-ten den Staat grundsätzlich
von oben, vom Standpunkte der Regierenden aus, und als treibende Kräfte der Geschichte erkennen sie die Staatsmänner, die wissen, was an der Zeit ist“
Zit. nach F.
Schnabel
S. 132, vgl.
Srbik
I S. 254, 265, 252, 258.
. Für
Ranke, der in dem Gegensatz zwischen Volkssouveränität und monarchischem Prinzip auch ein historisches Ringen sah, konnte danach nicht zweifelhaft sein, welchem Prinzip er die Sichtweise der Relationen zuordnete.
Ohne Berufung auf
Ranke, aber auch nicht unabhängig von zeitgeschichtlicher Selbsteinschätzung, führte dann die moderne deutsche Archivalienkunde das gesamte neuzeitliche und mittelalterliche Aktengut auf die verfassungspolitische Grund-anschauung derjenigen Jahrhunderte zurück, in denen dieses historische Material entstanden war.
H. O.
Meisner betrachtet „die Aktenkunde vor 1918“ in analytischer und genetischer Hinsicht „als ein
kontinuierliches Ganzes wie die gleichzeitige monarchische
Staatsform“
H. O.
Meisner,
Archivalienkunde S. 125, 123f.
: Bei der Einteilung und Benutzung der Akten sei stets davon auszugehen, daß es sich um die Erzeugnisse „monarchischer Jahrhunderte“ handele. Dieser Auffassung ist zuzustimmen, soweit man die Para-digmata vor Augen hat, an denen die neuzeitliche deutsche Urkunden- und Akten-lehre entwickelt wurde: Die preußische Schule gewann ihre Begriffe hauptsächlich am Behördenschriftgut des preußischen Absolutismus. Das untersuchte Schriftgut war aber zeitlich und sachlich begrenzt, ein aktenkundliches Kategoriensystem, das all-gemeine Geltung und übernationale Anwendungsmöglichkeiten beanspruchen könnte, war bei den Besonderheiten der speziellen Forschungsobjekte nicht erreichbar. Die Begriffsbildung der preußischen aktenkundlichen Systematik machte zwar eine Grund-struktur allgemein menschlichen Verhaltens sichtbar, die an dem behandelten Material besonders deutlich zutage trat, aber gerade wegen ihrer anthropologischen Allgemein-gültigkeit nicht nur diesen bestimmten Jahrhunderten der Menschheitsgeschichte zu-gerechnet werden darf.
Die Hauptkriterien zur Kennzeichnung verschiedener Aktenarten entnahm man der Rangordnung, die zwischen Absender und Adressat der „Schreiben“ herrschte: Das Briefgut wurde in „Weisungen“ (Reskripte, Dekrete, Mandate) einer höhergeord-neten an eine untergeordnete Stelle und in „Berichte“ (Relationen) der unteren an die obere Instanz und damit in Schriftstücke der Über- und Unterordnung eingeteilt. Diese grundlegende Zweiteilung brachte das hierarchische Verfassungsprinzip per-sönlicher Unterstellung zum Ausdruck, das im Absolutismus für die aktenprodu-zierende Behördenorganisation und Territorialverwaltung bestimmend geworden war.
[p. XLVIII]
[scan. 48]
Die dritte große Aktengruppe, die Schriftstücke der Gleichordnung umfaßte, spie-gelte die direkten Standesbeziehungen der untereinander gleichberechtigten Mitglieder der europäischen Fürstenfamilie wider. Einen Archetyp dieser Gruppe bildete die (Privat-)Korrespondenz der Monarchen und hohen Potentaten, die untereinander auf gleichem Fuße verkehrten; auch der Schriftverkehr einander gleichgestellter Behörden oder Instanzen ließ sich dieser Gruppe zurechnen.
Aus diesen drei Kategorien fällt das Schriftgut der Protokolle heraus, weil es durch die Absenz eines Adressaten und des „Rangmerkmals“ charakterisiert, d. h. „neutral“
H. O.
Meisner,
Archivalienkunde S. 194, 199f.
ist. Es wurde deshalb mit anderen Akten, die ebenfalls nicht brieflich waren, aber darüber hinaus nach Entstehung und Zweckbestimmung keine positiven gemeinsamen Merkmale mit Protokollen aufwiesen, dem sogenannten „internen Schreibwerk“
zugerechnet. Wie Grund-, Rechnungs- und Amtsbücher, Einlauf-, Auslaufjournale und Kopialbücher von expedierten Schreiben blieben nämlich auch die Protokolle „intern“, d. h. sie verließen nicht die sie verfertigende Behörde
/Kanzlei und „die Registratur des Ausstellers“
Ebd.;
vgl.
ders.,
Aktenkunde S. 54ff., 163.
. Diese Bestimmung kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Protokolle mit den Geschäftsakten über das Innenleben einer Behörde, den Registranden und Ordnungsbehelfen, denen sie damit zugewiesen wurden, im Grunde nur den situs loci gemeinsam hatten. Diese eher notdürftige Kennzeichnung im Rahmen der selbst wieder historisch bedingten aktenkundlichen Systematik kann die eigenständige Definition der Aktenform Protokolle nicht ersetzen. Bereits dem frühneuzeitlichen Sprachgebrauch entsprechend mag sie lauten: „möglichst gewissen-hafte und zutreffende Wiedergabe der in“ einer „Sitzung oder Besprechung vorge-fallenen Aussprachen und Vorgänge“
Meinardus,
Protokolle VI S. XI. Vgl.
Gross
S. 241f. und die umfassendere Definition von F.
Küch
(zit. APW
[III A 4, 1 S. XXXIII] ).
.
O.
Meinardus, dem wir diese Definition verdanken, hat sich seinem Stoff vom behördengeschichtlichen Aspekt her zugewendet. In den Sitzungen des Geheimen Rats, die teils unter Einschluß des Großen Kurfürsten stattfanden, sah er Besprechungen des „Landesfürsten“ mit den ihm verantwortlichen „Beamten“
Meinardus,
Protokolle VI S. XI f.
; die Niederschriften davon wertete er als Behördenprotokolle. Auch die Entstehung und Führung der schwedischen Reichsratsprotokolle erklärte er u. a. damit, daß dem Landesherrn über die Regierungsgeschäfte, die während der Dauer seiner Abwesenheit aus dem Reich getätigt worden waren, Rechenschaft gelegt werden mußte.
Meinardus behandelt die Protokolle des brandenburgischen Geheimen Rats sowie des schwedischen Reichs-rats also gewissermaßen als adressiertes Schriftgut, dessen innerer Ausrichtung auf die monarchische Landes- und Reichsführung die wichtigsten Aufschlüsse zu ent-nehmen seien.
Sicherlich haben Protokolle auch eine Funktion im Rahmen eines allgemeinen Schrift-verkehrs, der inner- wie auch zwischenstaatliche Unterstellungsverhältnisse voraus-setzt und sich entsprechend gliedern läßt. Die Sanktion durch den Monarchen als
[p. XLIX]
[scan. 49]
das oberste Staatsorgan kann geradezu zum Sichtungs- und Auswahlkriterium einer Protokoll-Edition erhoben werden, falls eine Körperschaft, die Protokolle hervor-bringt, keine oder eine nur sehr beschränkte verfassungsrechtliche Stellung innehat und – etwa innerhalb eines neo-absolutistischen Staatsgefüges – eine Abhängigkeit aufweist, ohne die ihre Tätigkeit nicht zu verstehen wäre
: Hier wird das Protokoll nur durch die Gegenzeichnung oder Genehmigung einer höheren Instanz wirksam. Auch gelangt das Protokoll eines beschlußfassenden Gremiums generell dadurch zum Effekt, daß es in ein „Verkehrsschriftstück“ umgewandelt wird und in Form eines „Protokollextraktes“, eines wichtigen Auszugs, oder in Gestalt eines „Resolutions-protokolls“, d. h. einer Zusammenfassung des erreichten Beschlusses, zur Grundlage einer Anordnung gemacht wird, die der Leiter der Behörde expediert
H. O.
Meisner,
Archivalienkunde S. 264f., 281.
. So wurden von den Reichstagsprotokollen des 17. Jahrhunderts, um die es hier geht, vor allem die Conclusen für den Geschäftsgang der Reichsversammlungen bedeutsam: Sie wurden mündlich oder schriftlich dem Kaiser oder seinen Vertretern übermittelt und machten zusammen mit der Stellungnahme des Reichsoberhaupts den Grundgehalt der Reichs-abschiede aus.
Ist aber die unverwechselbare Eigenart einer Gattung historischer Quellen letztlich aus deren externen Bezügen abzuleiten, aus. der Art und Weise, wie ein übergeord-netes Herrschaftsorgan sie verwertet? Das Prinzip der Über- und Unterordnung, das zur Einteilung der brieflichen Akten verwendet worden ist, repräsentiert den Geist der vergangenen Jahrhunderte nur partiell. Mit Hilfe dieses Prinzips können zwar Protokolle klassifiziert werden, die bei hierarchisch eingebundenen Behörden anfielen; die spezifischen Eigentümlichkeiten der Behördenprotokolle, z. B. Sichtver-merk durch den Monarchen, sagen jedoch zu wenig über die Form der gesamten Quellengruppe aus. Das Erscheinungsbild der Behördenprotokolle ist historisch von absolutistischen oder neo-absolutistischen Zeittendenzen mitgeprägt worden; aber die Protokolle frühneuzeitlicher Ständegremien sind in ihrer Eigenart nur unvollkommen erfaßt, wenn sie retrospektiv an der Zweckbestimmung von Protokollen aus absolu-tistischer Zeit gemessen werden. Die strukturelle Abhängigkeit des Phänotyps Behördenprotokolle von dem stets hierarchischen Aufbau eines Regierungs- oder Ver-waltungsapparates ist zwar als solche ein generalisierbares Element, sie trifft aber nur auf einen kleinen Ausschnitt der historischen Protokolle zu. Die Vorherrschaft des monarchischen Verfassungsprinzips in Deutschland bis 1918 darf nicht den Blick dafür verstellen, daß unter und neben den Monarchien kollegial organisierte Regierungen und Körperschaften mit regierungsähnlichen Befugnissen in großer Zahl bestanden haben: Ihre Beschlüsse, in Protokollform niedergelegt, konnten sozusagen an die Stelle landesfürstlicher Einzelentscheidungen treten: ein Musterbeispiel dafür ist die Konferenz der niederländischen Generalstaaten
Nicht zufällig haben die Niederländer früh eine genaue aktenkundliche Terminologie für das Potokollschriftgut entwickelt, vgl. darüber
F.
Wolff in
APW
[III A 4, 1 S. XXXIX Anm 9] .
. Die Resolutionen dieser
[p. L]
[scan. 50]
Staaten-Konferenz, die an die einzelnen Provinzen abgesandt wurden, ähnelten in ihrer Funktion den Reskripten und Mandaten der Landesherrn an einzelne Landes-teile und an die Landstände. Läge aber das für die Definition der niederländischen „Resolutionen“ ausschlaggebende Element in deren Versendungsform, so wären sie von den landesfürstlichen Reskripten allenfalls dadurch zu unterscheiden, daß man sie im Gegensatz zu den fürstlichen Einzelschreiben als „Kollektivschreiben“
Z. B. Ausschreiben; vgl.
F.
Küch (Hrsg.), Politisches Archiv des Landgrafen Philipp, I S. XXX.
be-zeichnen könnte, die an mehrere Adressaten verschickt und von mehreren gleichbe-rechtigten Absendern unterfertigt wurden. Selbst in dem angeführten Fall, daß Pro-tokolle oder deren Zusammenfassung in Schreiben umgewandelt wurden, ergäbe sich aus dem Außenverhältnis ihres Wirksamwerdens, ihrer
effectuirung, keine befrie-digende Beschreibung der Protokolle als Geschichtsquelle. Denn dann würde indirekt das „Rangmerkmal“, das die Definition als „neutrales“ Schriftgut gerade ausschloß, wieder eingeführt; aber selbst die Kennzeichnung von der „Neutralität“ her greift nicht, weil sie vom Fehlen erforderter Kriterien ausgeht, anstatt positiv aufweisbare Elemente in die Definition einzubringen. Es gilt also, auf die jeweiligen Entstehungs-situationen der Protokolle abzuheben: Sie lassen sich zwanglos auf den gemeinsamen Nenner bringen, daß den Protokollen – anders als den „Schreiben“ und jeder Art behördlicher Geschäftsregistratur – die Bindung an ein kollegial verfaßtes Gremium eignet, ohne das sie nicht zustandekämen. Sitzungsprotokolle dokumentieren den internen Prozeß einer korporativen Willensbildung, wie er innerhalb von Räten, Kurien, Konferenzen, Kollegien stattfindet; sie enthalten gleichberechtigte oder abge-stufte Willensbekundungen der Mitglieder des Kollegs zu einer bestimmten vorge-stellten, beantragten, proponierten Sache. Diese Willensäußerungen können selbst wieder auf dem Weg korporativer Willensbildung gefunden sein, insofern nämlich das Kollegium nicht aus Einzelpersonen, sondern aus Unterkollegien besteht, die innerhalb des größeren Corpus in einem Verhältnis der Hierarchie oder der Gleichordnung zueinander stehen
Der Reichstag, die ältere Universitätstagung und die verschiedenen Kongregationen der Konzilien von Basel und Konstanz ähnelten einander in dieser verschachtelten Beratungstechnik. Vgl.
A.
Seifert (Bearb.), Die Universität Ingolstadt S. 18, passim.
. Wesentlich aber ist, daß die Willensbildung nicht auf dem Wege der Korrespondenz
Vgl. zu dieser Methode per schedam
(schriftliche Beantwortung einer unter den Votanten kur-sierenden Anfrage) A.
Seifert,
Statuten- und Verfassungsgeschichte S. 215, 212f.
(die dann wiederum unter dem Gesichtspunkt der Über- und Gleich-ordnung aktenkundlich zu systematisieren wäre), sondern durch mündlichen Vortrag der divergierenden oder konvergierenden Ansichten zur Sache erfolgt. Werden die Einzeläußerungen (Voten) der Kollegglieder zur Sache notiert, spricht man von „Verlaufsprotokoll“, wird nur das Ergebnis der Beratungen festgehalten, so bietet sich der Terminus „Beschlußprotokoll“
H. O.
Meisner,
Archivalienkunde S. 195; auch „Resolutionsprotokoll“ (
Gross
S. 246ff.) oder „Schlußprotokoll“ (
Boshof –
Düwell –
Kloft
S. 233) genannt: die Aneinanderreihung ergibt „Konklusionsbücher“. Vgl. M.
Krebs
(Hrsg.), Die Protokolle des Speyerer Domka-pitels, I S. VII. – Ein bekanntes Schlußprotokoll ist das Londoner Protokoll von 1852 über die dänische Erbfolge.
an.
[p. LI]
[scan. 51]
Im Unterschied zu den Urkunden und auch zu den brieflichen Akten der Überordnung enthalten Protokolle ihrer eigentlichen Bedeutung nach weniger eine Sollens- als eine Seinsaussage. Sie schildern in der Regel einen konkreten Vorgang der politischen Willensbildung und gipfeln in Beschlüssen, die selbst wiederum eine Funktion in einem fortwährenden, institutionell rückbezogenen Handlungsstrang haben. Protokolle be-leuchten das Miteinanderhandeln und die Auseinandersetzung politischer Handlungs-träger, die jeder für sich mit Sollensvorschriften (Instruktionen) oder zumindest mit Absichten und Ansichten in Bezug auf ein vorliegendes Problem ausgestattet sind. Als Geschichtsquelle dienen Protokolle nicht primär der Darlegung von Rechtsvor-schriften, politischen Plänen und leitenden Absichten, sondern sie klären, wie solche Vorschriften und Absichten in die Wirklichkeit umgesetzt werden.
Vgl.
E.
Bonvalot, Le Tiers Etat d’après la charte de Beaumont S. 372, 83–87 (Wahlproto-kolle 1591–1717).
Als Quellengattung sind Protokolle Institutionen, Versammlungen und deren Ver-fahrensweisen zugeordnet. Große Personen, Ideen und Prinzipien kommen erst in zweiter Linie zur Geltung; ihre normativen und regulativen Ansprüche erscheinen in den Proto-kollen auf Durchsetzbarkeit hin reduziert. Dies heißt aber nicht, daß in Protokollen nur konturlose Zustände oder Verläufe beschrieben würden. Wollte man analog dem „Geist“ der Venezianischen Relationen von einem Geist der Pro-tokolle sprechen, so wäre auf das genossenschaftliche Element zu verweisen, das auf diese Quellengattung einwirkt und ihre verschiedenen Unterarten einheitlich struk-turiert. Das Handeln des Menschen in Institutionen, das anthropologische
Vgl. M.
Hauriou,
Die Theorie der Institution, hrsg. v. R.
Schnur
S. 27ff., 53.
und historische Komponenten hat und von der Bildung eines politischen Bewußtseins nicht zu trennen ist, färbt auch auf die Protokolle als den schriftlichen Niederschlag und die Hinterlassenschaft institutionenbezogenen Handelns ab. Wenn auch in den Protokollen Rechtsvorschriften und Handlungsabsichten nicht primär in der Abstraktions-stufe ihrer ideellen oder programmatischen Äußerung, ihrer Anempfehlung oder ihres Gebots anzutreffen sind, so wird darin doch deutlich, in welcher Weise solche lang- oder kurzfristigen Normsetzungen und Vorschläge praktisch werden. So ist z. B. nur aus den Wahlprotokollen, nicht aber aus den „Chartes“ zu entnehmen, wie eine Wahlordnung gehandhabt wurde, da sie in den Protokollen gerade nicht in der Abgezogenheit ihrer Dekretierung oder ihres Idealtyps erscheint
. Selbst die vage Protokollform der zweiseitigen Gesprächsnotizen hochgestellter (politischer) Per-sönlichkeiten wird, sofern sie – wegen ihrer Länge und Wichtigkeit – nicht in einen diplomatischen Bericht eingearbeitet ist, weniger mit Rücksicht auf die Person der Gesprächspartner als deshalb gewählt, weil der Inhalt Ihrer wechselseitigen Aus-führungen
Zu unterscheiden von der „diplomatischen Mitteilung“, die noch einen Adressaten hat, z. B. dem Aide-Mémoire, der im Rang unter einer förmlichen oder Verbalnote liegenden mündlichen Erklä-rung, die von Diplomaten gegenüber fremden Staaten abgegeben wird (
Boshof
–
Düwell
–
Kloft S. 232).
für die betroffenen Staatswesen bzw. Institutionen von erheblichem Interesse ist.