Acta Pacis Westphalicae III C 1,1 : Diarium Chigi, 1639 - 1651, 1. Teil: Text / Konrad Repgen

[p. XIX] [scan. 19]

EINLEITUNG

1. Das Chigi-Tagebuch 1632–1655 im Cod. Chig. lat. a I 8

Die großen Handschriftenbestände der Chigi-Bibliothek, die durch Papst Alexander VII (1655–1667) begründet und von seiner Familie bis ins 20. Jahrhundert fortgeführt worden ist, befinden sich seit 60 Jahren in der Vaticana. Sie sind also in einer – trotz ihrer beschränkten Mittel – vorzüglich organisierten und modern geführten, wissenschaftlichen Institution seit langem allgemein und leicht zugänglich. Dennoch ist die Chigiana auch nach 1923 von der Forschung verhältnismäßig wenig beachtet worden

J. Bignami Odier S. 151, FN 42: »La bibliothèque Chigi n’a pas encore été étudié suffisament et réserve beaucoup de découvertes«.
. Hier ist also noch Raum für wirkliche Entdeckungen.
Eine solche Entdeckung war für mich vor zwanzig Jahren die überraschende Feststellung, daß Fabio Chigi, der spätere Papst, nahezu 23 Jahre hindurch eigenhändig ein Tagebuch geführt hat. Die erste Eintragung datiert vom 14. September 1632, die letzte vom 9. April 1655, zwei Tage nach seiner Wahl zum Papst. Da von einem derartigen Tagebuch in der mir bekannten Literatur nie die Rede gewesen war, mußte ich zunächst skeptisch sein. Doch die Authentizität dieser Quelle steht aus äußeren und inneren Gründen außer Frage. Die acht »volumetti«, von denen der Katalog der Chigiana spricht, sind Chigis persönli-ches Tagebuch für die Jahre 1632 bis 1655. Warum dieses Diarium bisher nie benutzt worden ist, läßt sich natürlich nur vermutungsweise sagen. Manches spricht dafür, daß dies aus drei Gründen unterblieb. Erstens wird, wie erwähnt, ohnehin wenig in der Chigiana geforscht und besonders wenig über Fabio Chigi – vielleicht, weil sein Nachlaß so umfangreich ist, daß man lieber begrenztere Studienobjekte auswählt. Zweitens erschwert die mit dem Kleinbuchstaben a beginnende Signatur des Diariums das Auffinden im Katalog; denn diese Signaturen finden sich im systematischen Katalog hinter den mit dem Großbuchstaben R beginnenden Signaturen, weshalb sie mir bei meinen Forschungen in den fünfziger Jahren zunächst entgangen waren

Irreführend ist die zwar unvollständige, aber im Prinzip nützliche Übersicht über die Bestände der Chigiana für die Geschichte des Westfälischen Friedens, die L. von Pastor, XIV, 2 S. 1169–1172 (nach den Vorarbeiten des Österreichischen Instituts in Rom ab 1905) bringt. Dort sind die tatsächlich mit Kleinbuchstaben beginnenden Signaturen mit Groß-buchstaben geschrieben: A I 31, A I 32, A I 39, A I 40, A I 42, A I 44, und A I 45 müßte richtig heißen: a I 31, a I 32, a I 39, a I 40, a I 42, a I 44, a I 45 . Systematisch gesehen gehören diese Bände auch nicht zwischen die Reihe mit Großbuchstaben, sondern dahinter. G. Incisa della Rocchetta, Nunziatura, der seiner Publikation die vom Österreichischen Institut angefertigten Abschriften aus der Chigiana zugrunde gelegt hat, enthält kein Handschriften-verzeichnis. Er hat die korrekten Signaturen. L.-E. Halkin S. 58 ist hingegen mit der Angabe A I 44 und A I 46 erneut unkorrekt; es müßte heißen: a I 44, a I 46 .
. Drittens bietet die Auswertung dieses Tagebuchs erhebliche Schwierigkeiten, mit dem Lesen beginnend und mit dem Identifizieren endend.

[p. XX] [scan. 20]

Denn dieses Tagebuch hält nicht Selbstreflexionen fest; es berichtet nicht von eigenen Meinungen, Überlegungen, Erwartungen, jedenfalls nicht in der Regel, sondern es enthält stichwortartige, sehr oft nur abgekürzte Notizen vom jeweiligen Tagesablauf: Namen von Personen, bei Amtsträgern oft nur mit dem Amt, das sie bekleideten; Tageszeitangaben; gelegentlich Verhandlungsthemen – der Verfasser notiert hier aus autobiographischem Interesse Tag für Tag in fünf, sechs, zuweilen mehr, zuweilen weniger Zeilen das, was er getan und erlebt hat. Das Diarium Chigi ist daher eine Quelle, die – abgesehen von dem Bezug auf ihren Verfasser – aus einer riesigen Fülle in sich nicht zusammenhängender, sondern punktueller Notizen besteht, die chronologisch aneinandergereiht sind. Gemeinsam ist ihnen zunächst die Tatsache, daß Fabio Chigi in diesen dreiundzwanzig Jahren die jeweilige Notiz für notier- und daher erinnerungs-würdig hielt. Chigis Tagebuch ist also primär biographisch wichtig.
Der Verfasser dieses Diariums kam jedoch durch seinen Aufstieg im kirchlichen Dienst in immer höhere Ämter; dadurch wuchs ihm ein immer weiter reichen-der Pflichtenkreis zu, von denen sein Tagebuch Notizen festhält. Es gewinnt daher – je später, je mehr – Bedeutung für die historische Erforschung jedes dieser zahllosen Geschäfte, mit denen Chigi sich im Laufe dieser Jahre zu befassen hatte: zunächst in der kirchenstaatlichen Verwaltung als Vizelegat von Ferrara (1629–1634), der zugleich für Grenzverhandlungen mit Venedig und für Militärverwaltung zuständig war; danach in diplomatischer Mission als Inquisitor in Malta (1634 bis 1639), wie der veraltete Amtstitel lautete

Diese Periode des Lebens Chigis ist hinsichtlich seiner amtlichen Tätigkeit gut erschlossen durch V. Borg.
; dann als Nuntius in Köln (1639 bis 1651), der außerdem seit 1644 als außerordentli-cher Nuntius die Vermittlung zwischen den katholischen Mächten beim westfä-lischen Friedenskongreß in Münster zu versehen hatte; schließlich, seit 1652, als Kardinalstaatssekretär Innozenz’ X (1644–1655) und als Konklaveteilnehmer 1655. Das Tagebuch bietet also ein auf Telegrammstil reduziertes Kalendarium dessen, was Fabio Chigi 23 Jahre hindurch in Ferrara, Malta, Köln, Münster, Aachen und Rom auf den verschiedenen Posten im Papstdienst getan und erlebt hat. Da eine ähnliche Dokumentation aus dieser Zeit für keinen anderen Papst, soweit ich sehe, vorhanden ist, kommt dem Chigi-Tagebuch eine einzigartige Bedeutung als Quelle zu. Darauf habe ich 1966 hingewiesen und die Edition des Tagebuchs für die Jahre 1639 bis 1651 im Rahmen der APW in Aussicht gestellt

K. Repgen, Wartenberg S. 229, FN 59.
. Weil das Diarium Chigi, abgesehen von Borg, der es zur Feststellung exakter Daten heranzog

Vgl. etwa V. Borg S. 11, FN 5.
, und gelegentlicher Benutzung in meinen Forschungen

Vgl. etwa K. Repgen, Elsaß-Angebote S. 72, FN 28; ders., Finanzen S. 241, FN 52; ders., Bzovius S. 26, FN 2, S. 44, FN 57 und öfter; ders., Klerussteuer S. 60, FN 22 und öfter; ders, Archiv S. 316f.
noch unbekannt ist, dürfte es zweckmäßig sein, das Tagebuch kurz zu beschrei-ben.
★ ★ ★

[p. XXI] [scan. 21]

Die Signatur a I 8 der lateinischen Handschriften der Chigiana gilt für insgesamt zwanzig, im Katalog als volumetti bezeichnete kleine Notizbücher vom Umfang eines heutigen Taschenkalenders. Sie sind heute von (1) bis (20) durchnumeriert, wurden früher aber mit Buchstaben des Alphabets gezählt, von a bis v, wobei r fehlt, was auf einen Verlust hinweist. Solche kleinen Notizbü-cher mit weißem Papier, vom Buchbinder stabil gebunden, deren Blattzahl von 12 bis 252 differiert, hat der 1599 in Siena geborene junge Mann, der seit 1626 zur Ausbildung für die Prälatenlaufbahn in Rom weilte, schon in seiner Jugend benutzt

Chig. lat. a I 8 (19) ist ein Gebetbuch des jungen Chigi; zeitlich ähnlich der libro di ricordi circa lo spendere, dal giorno della mia partenza di Siena per Roma 1626. E di ogni altre spese di poi di vita, o di vestito ( Chig. lat. a I 6).
. Diese Gewohnheit hat er als Papst beibehalten, wobei er sich nun allerdings etwas größeren Luxus leistete und goldgepreßten Pergamenteinband anfertigen ließ

Zum Beispiel Chig. lat. a I 8 (12), ein Notizbuch des Papstes mit 211 Namen, je einer pro Seite, in alphabetischer Anordnung.
, während der Einband früher schlicht gewesen war.
Acht von diesen zwanzig volumetti bilden das Tagebuch Chigis 1632 bis 1655. Es handelt sich um folgende Teile der Sammelsignatur Chig. lat. a I 8:
Signatur Format Blattzahl Zeitraum
alt neu in cm
a (1) 6,4 x 13,8 48 1632 IX 14 – 1633 III 15

Chig. lat. a I 8 (1) enthält außer dem von fol. 1 bis 27´ laufenden Tagebuch eine fol. 48 beginnende und (gemessen an der heutigen Maschinenblattzählung) rückwärts bis fol. 27´ führende Serie von teils täglichen, teils undatiert eingetragenen Notizen über die laufenden Geschäfte. Er benutzte das Notizbuch also einmal von vorn nach hinten und einmal von hinten nach vorn, und zwar zur gleichen Zeit; denn die erste derartige Notiz datiert mit 1632 VIII 4, die letzte mit 1633 I 31. Als Beispiel sei der Eintrag zu 1632 VIII 10 zitiert: Congregatione di offitiali del soldo per posdodami | Lettera a Roma per le dozze a S. Em. | Il pittore a Sant’Anna col salario | Le pitture mandate a Fano, e Pesaro. Jede Zeile enthielt also die Aufzeichnung über ein einziges der laufenden Geschäfte, dessen Erledigung sich Chigi offensichtlich notierte, indem er den Wortanfang der Zeile mit zwei Schrägstri-chen durchstrich. Ab fol. 30 finden sich auch Bleistiftnotizen, während die Eintragungen im Tagebuch wie bei den laufenden Geschäftsnotizen mit Tinte erfolgten. Viele diesen Notizen ähnliche Aufzeichnungen Chigis finden sich auf kleinen, später aufgeklebten Zetteln, die offenkundig während der westfälischen Friedensverhandlungen entstanden sind; sie liegen in Chig. lat. a I 42, zwischen fol. 148 und 319´.
b (2) 6,6 x 13,0 56 1633 III 15 – 1634 III 17

Chig. lat. a I 8 (2) enthält ähnliche Geschäftsnotizen wie a I 8 (1). Sie sind mit 1633 IV 1 – 1634 III 14 datiert. Die doppelte Eintragung zum 15. März 1633 ist damit zu erklären, daß Chigi wegen der (offenkundig schon vorhandenen) Geschäftsnotiz auf fol. 27´ in a I 8 (1) nur noch eine Zeile Raum für die Eintragung zu 1633 III 15 blieb. Er füllte diese Zeile mit dem Anfang der Eintragung, schloß sie mit einem Kreuz (als Hinweiszeichen) und wiederholte sie in a I 8 (2) fol. 1.
d (4) 6,7 x 13,7 104 1634 III 18 – 1637 VIII 19
f (6) 6,5 x 12,8 110 1637 VIII 20 – 1641 XII 31

[p. XXII] [scan. 22]

g
(7) 6,4 x 12,9 109 1642 I 1 – 1646 XII 31
h (8) 6,4 x 12,8 111 1647 I 1 – 1651 XII 31
i (9) 6,3 x 12,8 85 1652 I 1 – 1654 VII 22
k (10) 6,3 x 13,8 89 1654 VII 23 – 1655 IV 9

Chig. lat. a I 8 (10) enthält nach dem 9. April 1655 noch eine Reihe von nicht tagebucharti-gen, teils sehr persönlichen Eintragungen in Latein, die einen ganz anderen Charakter haben als die Eintragungen zuvor. Bis zum 9. April behält das Tagebuch aber seinen seit 1632 feststehenden Charakter. Typisch dafür ist die letzte Eintragung zum Tag der Papstwahl, 1655 IV 7: e vo a letto stanco.
Wenn ich richtig sehe, hat Chigi sich über die Existenz und den Zweck seines Tagebuchs, das er gelegentlich einmal als libellum bezeichnet ( DCh

Das Diarium Chigi zitiere ich in der oben angegebenen Weise mit der Sigle DCh und der Zahl von Jahr, Monat und Tag. Dies ermöglicht ein leichteres Auffinden des Textes, als wenn mit Seitenzahl zitiert würde. Daher wird auch das Register nicht Seiten-, sondern Jahres-, Monats- und Tageszahlen enthalten.
1650 XII 31 Anm. a), nie ausdrücklich geäußert. Daher läßt sich wohl kaum konkret beweisen, warum er gerade am 14. September 1632 mit dem Tagebuchschreiben begonnen hat. Die Tatsache aber, daß er an dieser Übung festgehalten hat, bis er Papst war

Es läßt sich natürlich nicht ausschließen, daß Chigi als Papst, über den 9. April 1655 hinaus, noch ein dem diario der Jahre 1632 bis 1655 entsprechendes Tagebuch geführt hat. Aber die Wahrscheinlichkeit spricht dagegen; denn es wäre dann vermutlich erhalten geblieben und zu den übrigen Büchlein der Signatur a I 8 gefügt worden.
, läßt mit hinreichender Sicherheit erkennen, warum er sich für jeden Tag derartige Aufzeichnungen anfertigte: er war autobiographisch interessiert. Das Tagebuch hielt fest, was er Tag für Tag getan und erlebt hatte, und zwar in einer Form, die ihm das spätere Sich-Informieren über das früher Geschehene erleichtern sollte.
Bester Beweis für diese Absicht ist die Anlage der stets mit Tinte, also auf Dauer berechneten Eintragungen. Sie waren so übersichtlich eingerichtet, daß sich später darin leicht etwas nachsehen und finden ließ, zumal die Struktur des Tagebuchs all die Jahre hindurch unverändert blieb

Den folgenden Bemerkungen liegt das hier edierte Tagebuch zugrunde; auf geringe Abwei-chungen in der Zeit vor 1639 oder nach 1651 wird nicht eingegangen.
: Als Kolumnentitel trug er auf jedem Blatt recto die laufende Jahreszahl ein; das Ende eines Monats wurde durch einen Querstrich vom folgenden Monat deutlich abgetrennt; der Name des neuen Monats wurde unter diesen Querstrich als Überschrift, in der Zeilenmitte, mit entsprechendem Spatium, angebracht; und jede neue Tagesein-tragung begann mit dem Tagesdatum, dem (oft abgekürzten) Monatsnamen und der Wochentagsangabe – bei kirchlichen Feiertagen auch, aber nicht konsequent, mit Angabe des Festes

Die Festtagsbezeichnungen sind in die Edition aufgenommen. Daraus ergeben sich alle Einzelheiten. – Chigi hat zum Beispiel Ostern und Pfingsten regelmäßig vermerkt, Weih-nachten dagegen 1641, 1642 und 1643 nicht, Epiphanie 1641, 1642, 1644, 1646, 1647 und 1648 nicht. Bemerkenswert ist, daß Heiligenfeste selten notiert sind, auch Marienfeste selten: Mariä Verkündigung (25. März) wird nur 1640, 1645 und 1651 festgehalten, Mariä Himmelfahrt (15. August) 1646 und 1649; Unbefleckte Empfängnis Mariä (8. Dezember, damals aber noch kein gemeinkirchlich vorgeschriebenes Fest) nie. Wohl aber enthält das DCh zum 15. August regelmäßig eine Eintragung über Messelesen oder Messeteilnahme, für den 25. März jedoch nicht in den Jahren 1643, 1646, 1647, 1648, 1649 (allerdings: Zahnschmerzen an diesem Tag) und 1650.
.

[p. XXIII] [scan. 23]

Darüber hinaus verwendete Chigi in dem hier publizierten Teil seines Tage-buchs fünf verschiedene Arten, einzelnes hervorzuheben – sicheres Indiz für seine Absicht, Überblick zu behalten und wieder im Tagebuch nachsehen zu wollen:
  • – Verwendung von Versalien
  • – Anbringung von zwei Schrägstrichen am Zeilenrand
  • – Anbringung eines Kreuzes, meist am Zeilenrand, sonst am Zeilenanfang oder -ende
  • – Anbringung eines schrägliegenden Doppelkreuzes am Zeilenrand
  • – Unterstreichungen einzelner Wörter oder Sätze.
Mit Versalien markierte Chigi auf der Reise von Rom nach Köln 1639

Vgl. DCh 1639 V 18, VI 16, 21, 27, VII 1, 6, 9, 14, 19, 28, 30, VIII 2, 5, 9.
, auf den Reisen von Münster nach Aachen 1649

Vgl. DCh 1649 XII 13, 20.
sowie von Aachen nach Trier und zurück

Vgl. DCh 1650 VI 21, VII 14.
und schließlich auf der Rückreise von Aachen nach Rom

Vgl. DCh 1651 X 2, 9, 20, 29, XI 5, 11, 19, 28.
die Tatsache und die Stationen des Reisens – entweder quer zu den Zeilen

So in den FN 16 zitierten Fällen und DCh 1649 XII 13.
oder in der laufenden

So DCh 1649 XII 20.
oder einer neuen Zeile

So in den FN 18 und 19 erwähnten Fällen.
. Im Unterschied zu diesen Markierungen, die vermutlich alle sofort bei der Eintragung des betreffenden Tages vorgenom-men wurden, ist es sehr zweifelhaft, ob die beiden Schrägstriche, die sich nach dem 13. Oktober 1640 nur noch zweimal finden

DCh 1642 XII 7: erste Notiz über einen Besuch nach seiner Operation; DCh 1643 I 13: Notiz über Hodenschmerzen. Beide Markierungen also offenbar im Zusammenhang mit Chigis Steinoperation (vgl. unten S. XXIV).
, gleichzeitig angebracht worden sind. Der Tintenbefund

DCh 1639 IX 20 ist eine Ausnahme.
ist zu wenig eindeutig, um eine sichere Entscheidung dieser Frage zu ermöglichen. Aber die Beobachtung, daß diese Merkzeichen – abgesehen von den beiden erwähnten Ausnahmen – mit dem Zeitraum zusammenfallen, in dem der Kardinallegat Martio Ginetti noch in Köln weilte, mit dem Chigi sich schlecht verstand

Vgl. K. Repgen, Friedenspolitik S. 103f.; ders., Bzovius S. 77f.
, und daß sie sich stets bei Tageseintragungen finden, in denen erwähnt wird, daß der Nuntius mit dem Legaten zusammengetroffen sei

Vgl. DCh 1639 VIII 12, 16, 27, IX 11, 20 (dazu oben, FN 24), 26, X 3, 13, 18, XI 1, 24, XII 2, 16, 24, 1640 I 1, 13, 31, II 17, III 16, 30, IV 8, 10, 20, 29, V 4, 17, 27, VI 7, 17, 24, VII 2, 15, 25, VIII 1, 5, 12, 19, 28, IX 2, 8, 11, 13, 16, 23, 29, X 9, 12, 13 (Abreise Ginettis).
, machen fast sicher, daß Chigi sich auf diese Weise später einmal seine Begegnungen mit Ginetti rekonstruiert hat

Zu Chigis Verwendung der Schrägstriche als »erledigt«-Zeichen vgl. oben, FN 9.
.

[p. XXIV] [scan. 24]

Das Kreuz am Zeilenanfang ist eindeutig bereits beim Schreiben als Merkzei-chen verwendet worden. Es findet sich in den für ihn quälenden Oktobertagen 1642, als er darum bangte, ob der berühmte Pariser Chirurg Girault zur Operation Chigis nach Köln kommen werde

DCh 1642 X 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12. Zur Sache vgl. K. Repgen, Finanzen S. 241, FN 52 (mit den weiteren Nachweisungen).
. Die Kreuze am Zeilenende sind Merkzeichen, die sehr wahrscheinlich oder sogar sicher ebenfalls bei der Niederschrift angebracht wurden; eine ausreichende Erklärung für diese Her-vorhebungen ist in fast allen Fällen möglich

DCh 1644 V 14: Abreise des Kardinals Carlo Rossetti aus Köln; 1650 IX 16: Abreise nach Aspremont; 1650 IX 22: Rückkehr aus Aspremont; 1651 XI 9: Nachricht vom Tode seines Bruders, Augusto Chigi. Nicht erklären kann ich bisher das Zeilenende-Kreuz DCh 1651 X 11.
. Gut erklärbar ist meist auch der Grund für das Kreuz als Hinweiszeichen am Zeilenrand, das zwischen 1640 und 1644 häufiger, danach aber nur noch einmal, am Tage der Unterzeichnung der Friedensverträge mit Frankreich und mit Schweden in Münster (24. Oktober 1648), verwendet wird. Chigi markiert damit die Tage, an denen sich wichtige Dinge ereigneten oder er die Nachricht von solchen Ereignissen erhielt. Das Wichtigste in unserem Zeitraum waren für ihn die Tage, an denen Papst Urban VIII (1623–1644) gestorben und sein Nachfolger Innozenz X gewählt worden ist. Chigi hat diese Termine natürlich erst nachträglich, vermutlich am 17. August und 5. Oktober, durch ein besonders markant gestaltetes Kreuz, auszeichnen können

Vgl. DCh 1644 VII 29, IX 15 mit VIII 17, X 5.
. In den anderen Fällen dürfte das Hinweiszeichen des Zeilenrand-Kreuzes aber sofort, mit der Niederschrift der zugehörigen Tagesein-tragung, angebracht worden sein. Das gilt ziemlich sicher für die Markierung des Beginns und Endes eigener Reisen

Das Zeilenrand-Kreuz DCh 1642 VIII 12 galt vermutlich nicht dem Eintreffen der Nachricht vom Tode des Rota-Dekans Clemente Merlini, seines römischen Lehrers und wichtigsten Förderers (vgl. K. Repgen, Finanzen S. 230, FN 5 [mit weiteren Nachweisun-gen]), sondern der Abreise Chigis nach Würzburg; denn bei der Rückkehr nach Köln findet sich das gleiche Kreuz ( DCh 1642 IX 12). Für die Reise nach Münster vgl. DCh 1644 III 14, 19.
sowie der An- und Abreise von verwandten

Vgl. DCh 1642 III 26: Abreise des zum Internuntius in Brüssel ernannten Neffen Antonio Bichi. Für seine Tätigkeit in Brüssel vgl. L.-E. Halkin S. 37f.
, befreundeten

DCh 1640 VIII 20, IX 30: Francesco Maria Macchiavelli; 1641 IX 17: Abberufung Macchiavellis, dessen Nachfolge Carlo Rossetti übertragen wird.
oder wichtigen

DCh 1640 X 13 (Ginetti), 1643 II 9 (Girault).
Persönlichkeiten, für die Notiz von Sterbefällen

DCh 1642 VII 3: Tod der Mutter Ludwigs XIII, Maria Medici, im Kölner Exil.
, vom Eintreffen höfischer Nachrichten

DCh 1643 VIII 3: Kardinalpromotion, dabei Carlo Rossetti, der außerordentliche Nuntius für den Friedenskongreß in Köln.
oder von einigen Ereignissen zu Beginn des Westfälischen Friedenskongresses, die in ihrer Trag-weite nicht sofort zu erkennen waren, weil diese sich erst im Verlauf der Ereignisse ergab

Vgl. DCh 1644 III 27 (Antrittsbesuch bei Nassau und Volmar), IV 10 (Prozession unter Teilnahme Chigis, Nassaus und d’Avauxs). Wichtig wurde dagegen die erstaunlich spät an Chigi übergebene Kopie des französischen Invitationsschreibens an die Reichsstände, 1644 IV 6 (Text: Meiern I S. 219–222 ; zur Sache zuletzt W. Becker S. 148f.); vgl. DCh 1644 V 11.
. In all diesen Fällen liegt die Erklärung auf der Hand, in

[p. XXV] [scan. 25]

anderen ist es jedoch nicht möglich, mit ausreichender Sicherheit anzugeben, warum ein durch Kreuz markierter Tag für Chigi bemerkenswert war

Vgl. DCh 1642 III 5 (Thema der Besprechung Rossettis mit Chigi?); 1643 II 18 (P. Johannes Altinck SJ; Dr. Tillmann Plass; Jesuitenprovinzial); 1643 V 18 (Reliquien der Fürstäbtissin von Essen, Klara Maria von Spaur?); 1643 VII 13, IX 28 (römische Briefe vom 27. Juni und 5. September?); 1644 II 10 (Chigi bei Rossetti. Zur Sache vgl. K. Repgen, Chigis Instruktion S. 85f.; die Weisung des Staatssekretariats vom 1. Februar 1642 an Rossetti hatte dieser Chigi am 2. Februar ausgehändigt: DCh 1644 II 3).
.
Unschwer ist hingegen die Bedeutung der zwei ineinander gezeichneten, schräg-liegenden Kreuze am Zeilenrand zu erkennen. Dieses Doppelkreuz hält wichtige Daten der schweren und teuren Steinoperation fest, für die Chigi sich den erwähnten Pariser Chirurgen nach Köln kommen ließ

Vgl. FN 28. Auf die Operation bezieht sich gewiß das hinweisende Randkreuz DCh 1642 IX 24 (vgl. FN 41), und sehr wahrscheinlich ebenfalls das hinweisende Kreuz 1642 X 3.
. Das erste Doppelkreuz bezeichnet den Tag der ersten Operation (8. November 1642); das zweite den Drei-Könige-Tag 1643, als Chigi zum ersten Male wieder am Meßopfer teilnehmen konnte; das dritte den 2. Februar 1643, also Mariä Lichtmeß

Aber nicht als Feiertag im DCh festgehalten.
, als er zum ersten Male wieder selbst zelebrierte. Chigi hatte sich auf diese lebensge-fährliche Operation christlich (Exerzitien, Generalbeichte

DCh 1642 IX 24 (interdico le visite), IX 25 (comincio gli esercitii spirituali), IX 26 (recogito annos meos in amaritudine animae meae per tutto il giorno), IX 27 (fo la confession generale).
) und bürgerlich (Testament

Vgl. DCh 1642 IX 20 und K. Repgen, Finanzen S. 274.
) vorbereitet.
Ebenso unproblematisch wie die Erklärung dieses Merkzeichens ist die Interpre-tation der 1643 gelegentlich

DCh 1643 I 11 (vgl. I 6), 25 (Messehören nach der Krankheit), II 2 (Messelesen); außerdem DCh 1644 II 4 (Abtwechsel in Fulda).
, ab 1647 häufig begegnenden Unterstreichung einzelner Worte (meist Namen) oder Sätze. Es handelt sich aus der Periode in Münster meist, aber nicht immer

DCh 1647 VIII 9 (Rückkehr Serviens aus den Haag), X 24 (Promotion des Michele Mazzarino OP zum Kardinal am 7. Oktober 1647), X 25 (Tod Bergaignes); 1648 V 18 (Feiern zur Ratifikation des spanisch-niederländischen Friedens), X 25 (Te Deum wegen der Verträgeunterzeichnung vom 24. Oktober); 1649 X 12 (Rückkehr des Mitarbeiters Chigis, don Severo), XII 13, 20 (Abreise und Ankunft). Die Unterstreichung DCh 1648 XI 12, nachträglich eingetragen, macht auf die Irrigkeit der Nachricht aufmerksam, die festgehalten war.
, um die Notiz des Abreisetermins anderer Kongreßteilnehmer

Abreisen aus Münster nach DCh: 1647 III 27 (Herzogin Longueville), VII 16 (Trauttmans-dorff); 1648 II 3 (Herzog Longueville), IV 18 (d’Avaux), VI 29 (Peñaranda), VIII 9 (Chabot), X 12 (Leuxelring); 1649 III 12 (Servien), III 29 (Brun), IV 13 (Lamberg), V 19 (Raigersperger), VI 10, 12 (Nomis), VI 19, VII 2 (Krebs/Bayern), VI 20/VII 13 (Volmar), VI 21 (Carleni), VI 22, 29 (Fabri), VII 19 (La Court), VII 20 (Giffen), VIII 12 (Contarini), IX 13 (Krane), IX 23 (Nassau).
. Ähnlich hat Chigi es in der Aachener Periode gehalten

Vgl. DCh 1650 III 8, 15 (Herzogin Longueville), III 17, 18 (Philipp Wilhelm von Pfalz-Neuburg), V 27, VI 6 (Antonio Bichi), VI 20, 24, VII 20 (Trier-Reise), VII 1 (Flavio Chigi), VIII 1 (Atanasio Ridolfi, Flavio Chigi und Michelangelo Bonci), VIII 8 (Flavio Chigi), IX 16, 22 (Aspremont-Reise), XI 9 (Antonio Abbondanti), XI 23 (Antonio Abbon-danti, Michelangelo Bonci), 1651 II 22 (Atanasio Ridolfi, Flavio Chigi, Michelangelo Bond), V 12, VI 3 (Antonio Abbondanti), V 26 (Heinrich Mehring), VIII 23 (Flavio Chigi, Giuseppe Guglelmi [vgl. dessen sicherlich von Alexander VII diktierte kurze vita in Chig. lat. A III 64 fol. 569]).
,

[p. XXVI] [scan. 26]

doch werden auch Nachrichten über den Verlauf der Fronde auf diese Weise hervorgehoben

Vgl. DCh 1649 XII 31; 1650 I 28, XII 31; 1651 II 8, 19.
. Das Tagebuch ist, besonders 1650/51, voll von politischen Nachrichten über die französischen Wirren. Dies erklärt sich einmal daraus, daß Chigi in der Wartestellung der Aachener Jahre relativ wenig Amtspflichten zu erfüllen, also Zeit, an anderes zu denken, zur Verfügung hatte, zum zweiten aber aus seiner ganz ablehnenden Haltung gegenüber Mazarin. Dessen Sturz hält das Tagebuch wie einen Triumph fest

Vgl. DCh 1648 XII 31; 1649 I 5; 1650 XII 31; 1651 II 19.
. Es muß dem Kölner Nuntius Chigi eine Genugtuung bereitet haben, dem scheinbar endgültig gestürzten Kardinal, der auf der Reise ins Brühler Exil Aachen passierte, Anfang April 1651 seine Aufwartung zu machen

Vgl. DCh 1651 IV 2, 3, 4.
. Bei der Zurückhaltung von Urteilen, die Chigis Tagebuch sonst beobachtet, sind seine Passagen über Mazarin besonders bemer-kenswert.
Wenn Chigi im übrigen in seinem Tagebuch Abstinenz von Notierungen über die Einschätzung von Situationen und von Personen übt, so geschah dies selbstverständlich nicht, weil er kein Urteil besessen hätte. Das Gegenteil läßt sich aus seinem sehr umfangreichen nicht nur privaten, sondern auch dienstli-chen Briefwechsel mühelos belegen

Vgl. etwa Chigi an S. S., Münster 1646 I 12, dech. II 1 (NP 20 fol. 8/10´; hier nach Privatregisterkopie Chig. lat. A I 14 fol. 18/19´): Eine ausdrückliche Pariser Weisung gegen Chigis Vermittlungstätigkeit sei nicht gekommen. Ma è da sapersi con tutto il segreto, che monsieur Servien con la sua vehemenza, e prevalendosi del favore che ha apresso il sig. cardinale Mazzarino guida qua la barca, e domina gli altri due, che idolatrano S. Em., e ne tremono di paura. Longueville sei von Chigis Vorstellungen über die Lage in Rom überzeugt, wage aber nicht, bei der Königin gegen Mazarin aufzutreten, wie aus Serviens Bemerkungen zu erschließen sei. Il sig. Servient poi sotto il lustro di far grande la Francia, tiene alte le pretensioni, et aspira alla monarchia. Parla despoticamente, e perché gli dispiacciono i rimproveri della sua noncuranza circa le cose della religione cattolica, e perché con la sua politica vuol mescolarsi a pro degli heretici, però cerca di sfuggirmi più che può, e di render otiosa la mediatione coll’impegnar prima le risolutioni con gli Svezzesi, e poi portarle in campo, per non mutarne un jota.
. Der Grund dafür liegt in dem Umstand, daß Chigi solche Dinge in seinem Tagebuch nicht festhalten wollte. Er will das Äußerliche, die handgreiflichen »Fakten« notieren – diese aber in sehr großer Zahl und mit großer Genauigkeit.
Die Präzision der Tagebuchnotizen war natürlich nur erreichbar, weil sein Tagebuch offenbar ganz regelmäßig und höchstens, wie sich aus zwei Beobach-

[p. XXVII] [scan. 27]

tungen, einmal im Jahre 1647

Vgl. DCh 1647 XI 3, 4: Eintragungen frühestens am 4. November.
, das andere Mal im Jahre 1650

Vgl. DCh 1650 VI 3, 4, 5: Eintragungen wahrscheinlich am 5. Juni.
, ergibt, mit einem Abstand von zwei oder drei Tagen geführt worden ist

Anders zu bewerten sind Verbesserungen während des Schreibens (vgl. DCh 1648 II 21, III 15) oder Nachträge ( DCh 1648 XII 31, 1649 I 5, 24).
. Es ist anzuneh-men, daß Chigi in der Regel seine Eintragungen täglich zu Papier gebracht hat. Deshalb sind sie eine so zuverlässige Quelle für das, was sie mitteilen. Die Tagebuchnotizen Chigis stehen den Ereignissen, über die sie berichten und die sie festhalten, ganz nahe. Man kann ihnen trauen. Sie sind ein hervorragend zuverlässiges Nachschlagemittel.
Zum Nachschlagen eignet sich das originale Tagebuch Chigi aber nur nach Überwindung einiger Schwierigkeiten. Zunächst ist zu betonen, daß die Lektüre der Tagebuchnotizen nicht leicht ist, weil Chigi ungewöhnlich klein geschrieben hat. Die Blätter, auf denen 1639 bis 1651 das Tagebuch eingetragen ist, sind weniger als 13 cm hoch. Auf diesem taschenkalendergroßen Papier hat Chigi in der Regel 29 bis 34 Zeilen untergebracht, zuweilen mehr, auch weniger

Für das Tagebuch in der Zeit 1639 V 18 bis 1642 XII 31 zähle ich: einmal 26, fünfmal 27, siebenmal 28, einundzwanzigmal 29, einunddreißigmal 30, fünfundzwanzigmal 31, sieben-undzwanzigmal 32, vierundzwanzigmal 33, fünfzehnmal 34, siebenmal 35 und einmal 36 Zeilen.
. Da Chigi außerdem fast stets einen ordentlichen Zeilenabstand wahrte, sind die einzelnen Buchstaben und einzelne Worte oft nur 1 bis 2 mm groß oder bestehen sogar nur aus so kleinen Änderungen der Richtung des Schreibduktus, daß es sich in Längenmaßen kaum noch ausdrücken läßt. Das macht das Entziffern dieser Quelle zu einem wahren Augenpulver. Bei schlechterem Tageslicht und bei nicht optimalem Kunstlicht lassen sich weite Partien des Chigi-Tagebuchs kaum lesen. Der Verfasser, der ja mit erheblich schlechteren Beleuchtungsverhältnissen leben mußte als wir heute, scheint über eine beneidenswerte Sehkraft der Augen verfügt zu haben und muß im Federspitzen ein wahrer Meister gewesen sein.
Die zweite Schwierigkeit ergibt sich aus einer großen Fülle von Abkürzungen, die der Tagebuchschreiber bei diesen privaten Aufzeichnungen, die nicht für dritte Augen bestimmt waren, gelegentlich oder regelmäßig benutzte, um Platz zu sparen und/oder mit dem Schreiben schneller voranzukommen. Diese Abkürzungsgepflogenheiten berühren zum Teil die Grenze des Kurrentschriftli-chen und bedeuten eine Art privater Stenographie. Sie haben sich oft wohl nur aus der Gewohnheit des eiligen Schreibens ergeben. Es bedarf daher schon einer gewissen Vertrautheit mit Chigis (im Prinzip sehr ordentlicher) Handschrift, um die Eintragungen seines Tagebuchs überhaupt lesen zu können. Die dritte Schwierigkeit, die mit dem richtigen Lesenkönnen verbunden ist, aber darüber hinausführt, bereitet jedoch die Identifizierung sehr vieler Eintra-gungen. Ich nenne dafür drei Beispiele, könnte den Katalog aber mühelos erheblich erweitern:

[p. XXVIII] [scan. 28]

– es begegnen zuweilen groteske Hörfehler, besonders bei deutschen Namen; das Gemeinte zu verifizieren, verlangt dann etwas Phantasie- und Kombinations-gabe

Der Ort Bolsenfausen ( DCh 1639 VII 18) ist »Wolfratshausen«; der ( DCh 1641 I 2) zur Neujahrsgratulation erscheinende Mandarsagar ist der Kölner Stadtsyndikus Dr. Gerwin Meinertzhagen.
;
– Chigi notierte sich viele Personen, die ihm dienstlich oder privat begegneten, in unsystematischem Wechsel mit ihrem Familiennamen oder der Bezeich-nung des Amtes, das sie bekleideten. Das bedingt oft sehr aufwendige Recherchen, besonders, wenn es sich um Institutionen handelt, bei denen während der Zeit, die das Tagebuch umfaßt, mit Personalwechsel zu rechnen ist, zum Beispiel bei den mehr als zwei Dutzend Orden, mit denen Chigi zu tun hatte, und deren Geschichte noch gar nicht oder für unseren Zweck unzureichend erforscht ist

Am leichtesten ist die Identifizierung bei dem damals am besten und zentral organisierten Orden, den Jesuiten; für die übrigen Mönchsorden und vor allem für die Frauenorden ist die Überlieferung erheblich schlechter.
;
– die Gewohnheit, bei Untergebenen und bei nahestehenden Italienern allein den Vornamen (und nicht den Familiennamen) zu benutzen, macht die Verifizierung oft schwierig, gelegentlich auch unmöglich

Der DCh 1651 V 26 erwähnte don Henrico ist sicher Chigis Mitarbeiter Dr. Heinrich Mehring; der DCh 1649 X 12 erwähnte don Severo ist sehr wahrscheinlich der Utrechter Kanoniker Dr. Theophil. Severus (bei G. Incisa della Rocchetta, Nunziatura S. 199, FN 1 nur vermutungsweise formuliert); den DCh 1639 VIII 22 erwähnten canonico Conte kann ich nicht näher identifizieren, ebenso nicht den DCh 1640 I 3 erwähnten sig. Abramo aus den Niederlanden.
.
Aber auch, wenn eine Identifizierung gelingt, was in den meisten Fällen möglich ist, sind die Schwierigkeiten nicht behoben; denn es läßt sich nicht in allen Fällen ein gleicher Grad von Genauigkeit erreichen; der unterschiedliche Genauigkeitsgrad aber ist gerade für eine Quelle wie dieses Tagebuch, mit ihrem Nebeneinander punktueller Notizen, von erheblicher Bedeutung. Das sei an einem relativ einfachen Beispiel erklärt: an Chigis Kölner Wohnung, von der das Tagebuch immer wieder spricht, wenn es mit »hier« oder »dort« Lokalisie-rungen beschreibt, wenn Chigi notiert, daß er »von Hause« oder »nach Hause« gegangen ist. Aus dem Tagebuch selbst ergibt sich, daß Chigi drei verschiedene Residenzen bewohnt hat: zunächst die von seinem Vorgänger, Martino Alfieri, übernomme-ne

DCh 1639 VIII 9: vo in casa da mons. Alfieri.
; danach am 1. Oktober 1639 eine casa nuova

DCh 1639 X 1: passo alla casa nuova.
; und schließlich, ab 15. oder 23. Oktober 1640, eine dritte Wohnung

DCh 1640 X 15: passo dalla casa nuova; X 23: vo alla casa nuova.
. Es läßt sich nun mit einiger Mühe ermitteln, daß Chigis erste – feuchte und daher schlechte

Chigi an Wartenberg, Köln 1639 VIII 13 (eig. Minutenkopie: Chig. lat. B I 7 fol. 503´/504): Arrivato [...] havendo trovate in malo stato di sanità sig. Alfieri mio antecessore per la mala qualità dell’habitatione [...]; ähnlich ders. an Wilhelm von Höllinghoven, Köln, 1639 VIII 13 (eig. Minutenkopie: ebd., fol. 504); vgl. ders. an (seinen römischen Agenten) Stefano Ugolino, Köln 1639 VIII 21 (eig. Minutennotiz: ebd., fol. 474): questa casa è fracida, et ha infracidato mons. Alfieri.
– Residenz wahr-

[p. XXIX] [scan. 29]

scheinlich
die Propstei des Stiftes St. Andreas, einige Minuten Fußwegs nord-westlich des Doms

Der Plan »Köln. Kirchen und Klöster im Mittelalter«, in: LThK 2VI, hinter Sp. 384, gibt eine erste, brauchbare Orientierung. Das Jesuitenkolleg lag an der Marzellenstraße, rheinwärts, etwa auf der Höhe des Dominikanerklosters.
, gewesen ist

A. Franzen S. 102, FN 67; NB V/1 S. XXVII (1611 I 8): Bey S. Andreas Kirch; Kunstdenkmäler VII, 3 Erg. S. 188: »Quartier des päpstlichen Nuntius in der Propstei St. Andreas«.
. Die zweite, ab 1. Oktober 1639 bezogene Wohnung lag vermutlich ganz in der Nähe der ersten, in der Marzellenstraße, bei St. Paul

In den FN 61 zitierten Briefen vom 13. August an Wartenberg und Höllinghoven bat Chigi um Unterstützung für die Anmietung einer neuen Wohnung, die dem kurkölnischen Rat Adamo Heirstorf gehöre und vicina a San Pavolo liege. St. Paul schloß sich im Osten an St. Andreas an. Daß diese Mietabsicht vermutlich realisiert wurde, ergibt sich aus der Einladungsliste zu einem Doktorschmaus bei Kölner Jesuiten 1640, bei F. J. von Bianco, Anlagen, S. 107–119, hier 108. Der Nuntius steht unter Die Marcellenstraß auff. St. Paul lag dort.
. Wo Chigi dann ab Mitte Oktober 1640 gewohnt hat, läßt sich hingegen genauer angeben, weil das quellenmäßig bezeugt ist. In einem Informativprozeß urkundet Chigis Notar im Jahre 1643 in aula residentiae Ill mae S. Cels nis in camera superiori, e regione templi fratrum Minoritarum ordinis S. Francisci in praesentia mei notari

NAC 95/[3]: gedruckte forma professionis fidei des Paderborner Weihbischofs Bernhard Frick, Bischof von Cardica i. p. i., 1643 VIII 31. – Wie später in Münster hat Chigi auch im Kölner Minoritenkloster kleinere Ausbauarbeiten vornehmen lassen, die im Tagebuch festgehalten sind: vgl. DCh 1640 X 30 (disegno la scala), XI 2 (si lavora la scala di legno), 7 (fo accomodar le due stufe), 11 (fo spezzare le camere murate, e accomodate), 17 (fo accomodar le strade del giardino).
. Damit erklärt sich, warum Chigis Tagebuch zum 30. April 1642 notiert: qui alla disputa a San Francesco, oder warum der Nuntius zum Empfang der Osterkommunion in den Jahren 1641, 1642 und 1643 in die Pfarrkirche St. Kolumba gegangen ist, in deren Bezirk das Kölner Minoritenkloster lag

DCh 1641 III 31, 1642 IV 20, 1643 IV 5.
. Im ersten Falle läßt sich die Kölner Residenz Chigis also mit Wahrscheinlichkeit verifizieren, im zweiten Falle eine wenigstens als Vermutung sinnvolle Identifizierung formulieren, im dritten Falle aber der quellenmäßige Nachweis führen, wo Chigi gewohnt hat.
Dies interessiert uns hier nicht wegen der Geschichte der Residenz der Kölner Nuntien

Chigis Nachfolger San Felice nahm Residenz im Kölner Karmeliterkloster am Waidmarkt; vgl. NAC 95/11 (Informativprozeß für Adam Adami, Weihbischof von Hildesheim). Dort hatten von 1636 bis 1644 nacheinander Ginetti, Macchiavelli und Rossetti gewohnt; vgl. dazu K. Repgen, Friedenspolitik S. 104. Chigi scheint 1640 auch den Umzug in das Karmeliterkloster erwogen zu haben; vgl. DCh 1640 X 14: a cui [= Macchiavelli] mostro questa casa, e l’altra da San Francesco; vediamo anco le stanze del Carmine.
, sondern als ein paradigmatischer Sachverhalt, der für die Einrich-tung der Edition des Chigi-Tagebuchs maßgebend ist. Da diese dem Benutzer

[p. XXX] [scan. 30]

die unterschiedlichen Genauigkeitsgrade der Identifizierungsmöglichkeiten bei jeder Information, die das Tagebuch enthält, hinreichend deutlich machen muß, ist es unerläßlich, im Kommentar die verschiedenen Aussageebenen so standardi-siert zu formulieren, daß Mißverständnisse ausgeschlossen werden. Das mag trivial oder pedantisch klingen, ist aber für die Anlage des Kommentars zu einer Quelle, in der nicht gelesen, sondern nachgeschlagen werden wird, fundamental. Weitere Konsequenz dieser Überlegung ist der mißliche, aber unvermeidliche Umstand, daß der Tagebuchtext erst nach Fertigstellung des gesamten Kom-mentars durch ein Register erschlossen werden kann. Sonst würde das Register dem Benutzer die Verifizierungen und Identifizierungen, die der Editor mit so unterschiedlichem Genauigkeitsgrad erreicht hat, verschleiern, anstatt zu ihnen hinzuführen.

2. Zum Quellenwert des Chigi-Tagebuchs

Unsere Edition umfaßt Eintragungen vom 18. Mai 1639 bis zum 30. November 1651, also für 4215 Tage. Geht man davon aus, daß Chigi sich im Durchschnitt pro Tag über ungefähr sechs verschiedene Punkte Notizen ins Diarium einge-tragen haben dürfte, so enthält sein Tagebuch – formal betrachtet – etwa 25 000 Einzelinformationen. Diese Nachrichtenmasse hat ihren Wert als historische Quelle, abgesehen vom Biographischen, sowohl im Bereich der politischen Geschichte wie auch der Kirchengeschichte, der Sozial- und der Kulturge-schichte. Die Bedeutung des Tagebuchs für die Erforschung der politischen Geschichte liegt vor allem in den fünfeinhalb Jahren, die Chigi als außerordentlicher Nuntius für die Friedensverhandlungen in Münster zugebracht hat, also der Zeit vom 19. März 1644 bis 13. Dezember 1649. Für diesen Zeitraum hält das Tagebuch eine riesige Fülle präziser Nachrichten über den äußeren Ablauf des Geschehens bereit. Es ermöglicht damit, sehr genau festzustellen, in der Regel sogar mit Stunden- oder wenigstens Tageszeitangabe, wann welche Verhandlun-gen oder Gespräche wo und mit welchem Teilnehmerkreis in Münster stattge-funden haben. Das Chigi-Tagebuch bietet also Material für die genaue Rekon-struktion des äußeren Ablaufs der offiziellen Verhandlungen der katholischen Mächte untereinander, also jenes Teils des politischen Geschehens, in den der Nuntius als Friedensvermittler – ähnlich wie heute ein Notar bei zivilrechtli-chen Vertragsverhandlungen oder der Präsident eines Parlaments bei interfrak-tionellen Verständigungen – einbezogen war. In dieser Hinsicht, was die korrekten und konkreten Daten betrifft, dürfte das Chigi-Tagebuch von keiner anderen Quelle übertroffen werden, auch nicht von den voluminösen Diarien, die der kaiserliche Sekundargesandte Isaak Volmar und der kurkölnische Delegationsleiter Franz Wilhelm von Wartenberg, Fürstbischof von Osnabrück, geführt haben

Sie werden publiziert als APW III C 2 (Diarium Volmar) und APW III C 3 (Diarium Wartenberg).
. Deren Diarien – ganz dicke Folianten – sind eine Kombination

[p. XXXI] [scan. 31]

von Hauptjournal, das den schriftlichen Geschäftsverkehr der Delegation festhält, mit Protokollbuch. In diesen Niederschriften wird der Gang der Verhandlungen mit Rede und Gegenrede, Behauptung und Widerlegung, Argu-mentation und Gegenargumentation in ermüdender Weitschweifigkeit festge-halten.
Ein derartiges »Protokollbuch«, wenn auch erheblich knapper als im Diarium Volmar oder Wartenberg formuliert, hat auch Chigi anfangs geführt. Es ist im Codex Chig. lat. a I 42 erhalten und 1943 in Rom publiziert worden

G. Incisa della Rocchetta, Nunziatura S. 91–335, aufgrund der 1912/13 für das Österreichi-sche Historische Institut gefertigten Abschriften. Der Text ist brauchbar, hat jedoch keinen textkritischem Apparat und keine textkritische Einführung, aber einen reichen biographischen Anmerkungsapparat.
. Dieses Niederschriften-Buch setzt am 19. März 1644 ein und enthält bis zum 27. Februar 1645 ziemlich regelmäßig Eintragungen, danach, vom 3. März bis 29. Mai 1645, noch sporadisch. Wie an anderer Stelle schon genauer dargelegt worden ist

Vgl. K. Repgen, Wartenberg S. 226ff., auch zum folgenden.
, bieten Chigis Niederschriften, die in etwa dem extractus proto-colli der zeitgenössischen deutschen Akten ähneln, etwas ganz anderes als das Tagebuch; denn sie berichten nicht allein über die Tatsache, sondern auch über den Inhalt von Verhandlungen und führen insofern viel weiter als die dürftigen Tagebuchnotizen. Aber auch für den Zeitraum, in dem sie vorliegen, ersetzen sie das Tagebuch keineswegs. Es hat sich nämlich gezeigt, daß Chigi nicht über jede Begegnung, die er hatte, und nicht über jede Verhandlung, die er führte, eine Niederschrift angefertigt hat. Zwischen dem 27. November 1644 und dem 19. Februar 1645, also innerhalb eines Zeitraumes, in dem die Niederschriftenserie dicht ist

Niederschriften Chigis in Chig. lat. a I 42 liegen vor für folgende Daten: 1644 II 19, 20, 21, 22, 23, 24, 27, 28, 29, 31, IV 2, 6, 7, 9, 11, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 24, 25, V 6, 7, 9, 15, 16, 17, 18, 20, 21, 23, 24, 27, VI 2, 3, 7, 8, 10, 11, 12, 14, 20, 21, 22, 26, 27, 28, VII 1, 5, 8, 9, 11, 16, 17, 22, 23, 24, VIII 5, 14, 15, 19, 22, 26, 28, IX 12, 13, 14, 20, 21, 25, 27, 28, 29, 30, X 1, 2, 3, 4, 5, 7, 10, 11, 13, 14, 16, 17, 18, 19, 20, 22, 25, 26, 28, 29, 30, 31, XI 1, 2, 3, 4, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 15, 16, 18, 19, 20, 21, 23, 24, 27, 29, XII 4, 5, 6, 7, 9, 11, 13, 17, 18, 19, 20, 23, 24, 25, 27; 1645 I 1, 2, 4, 5, 6, 7, 8, 14, 15, 16, 17, 19, 23, 24, 26, 27, 28, 29, II 1, 3, 4, 5, 7, 13, 14, 15, 18, 21, 22, 24, 25, 26, 27, III 3, 26, IV 4, 12, 25, V 13, 28, 29. Diese Niederschriften werden in APW III C 1,2 berücksichtigt. Sie in APW III C 1,1 als Text zu drucken, habe ich mich nicht entschließen können, um die Einheitlichkeit des Tagebuchs nicht zu zerstören; sie hier im Anhang zu drucken, wäre für den Benutzer lästiger, als im Kommentarband.
, traf der Nuntius mit dem Osnabrücker Fürstbischof Wartenberg persönlich neunmal zusammen. Darüber hat Chigi in 5 Fällen eine Nieder-schrift angefertigt, während das Wartenberg-Diarium immerhin zu 8 Begegnun-gen Niederschriften Wartenbergs enthält. Wenigstens die Tatsache des neunten Zusammentreffens der beiden ist im Chigi-Tagebuch hingegen festgehalten worden, obgleich es sich nur um eine zufällige Begegnung nach dem Spaziergang handelte

Vgl. DCh 1644 XII 12. Die Daten, an denen Chigi und Wartenberg sich trafen, sind: 1644 XI 27, 30, XII 12, 27; 1645 I 1, 24, II 5, 10, 19. Chigi-Niederschriften liegen vor für 1644 XI 27, XII 27; 1645 I 1, 24, II 5. Nachweisungen in K. Repgen, Wartenberg S. 250.
. Wer das politische Verhältnis Chigi-Wartenberg in den Jahren

[p. XXXII] [scan. 32]

1644/45 untersuchen will, tut also gut daran, vom Chigi-Tagebuch auszugehen, um das Datengerüst zu gewinnen, das aller weiteren Forschung zugrunde gelegt werden kann.
Das Chigi-Tagebuch ist im übrigen selbst einer so genauen und umfangreichen Quelle wie dem Wartenberg-Diarium an Präzision und Vollständigkeit noch mehr überlegen, als die eben genannten Zahlen erkennen lassen. In den Monaten Januar bis April 1646 ist Wartenberg mit dem Nuntius nach Ausweis seines eigenen Diariums achtmal, nach den Notizen des Chigi-Tagebuchs aber zehn-mal zusammengetroffen

Direkte Begegnungen: 1646 I 14, II 17, III 12, 27, IV 4, (8), 9, 10, (19), 29 [die runde Klammer bezeichnet hier, daß das Wartenberg-Diarium keine Überlieferung davon bietet]. Nachweisungen ergeben sich demnächst aus APW III C 3,2 [ S. 1260–1262.]
. Noch ungünstiger für die kurkölnische Quelle ist das Ergebnis, wenn man nach den indirekten Kontakten der beiden (durch Mitar-beiter, die Aufträge überbrachten) fragt: das Chigi-Tagebuch hält 13 derartige Fälle in den ersten vier Monaten 1646 fest, das Diarium Wartenbergs nur 7

Indirekte Kontakte: 1646 I 7, 11, 12, 17, (19), II (11), 22, 19/20, (24), (25), IV (10), 28, (30) [Bedeutung der runden Klammer wie in FN 73]. Der indirekte Kontakt am 19. Februar (im Diarium Wartenberg unter II 20 festgehalten) war für Chigi sehr wichtig; denn Wartenberg informierte ihn über die religionsrechtspolitische Konzessionsbereitschaft Trauttmansdorffs (dazu vgl. A. Knoch S. 85f., 269 FN 82.)
. Beide Kontaktnahmen zusammengenommen, die direkten und die indirekten, ergibt sich ein Verhältnis von 23 zu 15 zwischen Chigi-Tagebuch und Warten-berg-Diarium. Diese Zahlen allein zeigen schon deutlich, wie nützlich und wichtig das Tagebuch Chigis für die künftige Erforschung der Geschichte des Westfälischen Friedens ist, obgleich die päpstliche Politik auf diesen bekanntlich wenig Einfluß zu nehmen vermocht hat.
Daß der Wert des Chigi-Tagebuchs für die Kirchengeschichtsforschung einzigar-tig ist, bedarf keiner langen Begründung. Wie keine andere Quelle gewährt es einen neuen und überaus nüchternen Einblick in den Alltag des Nuntius, der in seinen Kölner Jahren (1639–1644) und danach wieder in Aachen (1650–1651) mit allgemeiner Politik im engeren Sinne fast gar nicht, aber pausenlos, jedenfalls in Köln, mit Kirchenverwaltung beschäftigt war. Dieser Verwaltungs-alltag

Dazu jetzt W. Reinhard, Verwaltung.
steht in einem bemerkenswerten Kontrast zu dem Bild, das man von Chigis innerkirchlicher Tätigkeit gewinnen müßte, wenn man allein seine Korrespondenz mit den römischen Behörden zugrunde legte. Trotz ihres unbe-streitbar hohen Quellenwertes

Vgl. Nuntiaturforschung, passim, besonders G. Lutz, Glaubwürdigkeit.
beleuchten Nuntiarberichte eben nur die sicht-bare Spitze eines Eisbergs; das meiste, was der Nuntius zu tun hatte, konnte er an Ort und Stelle erledigen, ohne Rom zu informieren oder römische Weisungen einzuholen. Das oft zu einem Topos stilisierte Wort vom nachtridentinischen »Zentralismus« des Papsttums erklärt die kirchliche Wirklichkeit dieser Zeit offenbar sehr unvollkommen; wenn es ein Zentralismus war, so war es – allein schon wegen der Verkehrsverhältnisse und Kommunikationsbedingungen – ein sehr dezentralisierter Zentralismus.

[p. XXXIII] [scan. 33]

Darüber hinaus vermittelt das Chigi-Tagebuch zwei weitere kirchengeschichtli-che Einsichten von allgemeiner Bedeutung, denen nachgegangen werden sollte. Das eine ist der auffällige Unterschied des Umfangs, in dem Chigi während der Kölner Jahre einerseits und der Münsteraner Jahre andererseits durch die innerkirchliche Tätigkeit beansprucht worden ist. Solange der Nuntius sich in der rheinischen Metropole aufhielt, wurde er nahezu täglich in irgendeiner Form kirchenverwaltungsmäßig

Unabhängig von seiner Tätigkeit als kirchlicher Richter, wenngleich sich die richterliche und die verwaltungsmäßige Tätigkeit nicht streng scheiden lassen. Dazu vgl. K. Repgen, Finanzen S. 269, FN 165 sowie die Fragmente Kölner Nuntiatur-Prozeßakten, die in NAC 152, 153 und 174 erhalten sind.
tätig. Sobald er in Münster angekommen war, wurde das anders. Seine Aktivitäten konzentrierten sich nunmehr ganz auf die große Politik; in seinem täglichen Tun trat die Kirchenverwaltung deutlich in eine zweite oder sogar dritte Linie zurück, obgleich Chigis Kompetenzen als Kölner Nuntius von der zusätzlichen Beauftragung mit der außerordentlichen Nuntiatur nicht berührt wurden und er auch keinen mehr oder minder formell bevollmächtigten Vertreter in Köln zurückgelassen hatte. Gewiß wurden die wichtigen, »großen« innerkirchlichen Verwaltungsfälle auch in Münster an den Kölner Nuntius herangetragen (zum Beispiel die Informationsprozesse für Bischöfe und Äbte); offenkundig aber war das Ausmaß, in dem er im »normalen« kirchlichen Alltag sein Gewicht geltend machen konnte, in erheblicher Weise an seine persönliche Präsenz in Köln geknüpft. Der Umfang seines schriftlichen Verwaltungshandelns in Münster ist nicht erheblich gegenüber der Kölner Zeit gemindert; aber die Möglichkeit persönlicher Einflußnahme durch das persönli-che Gespräch mit dem Ordensoberen X oder dem Stiftsherrn Y war offenbar drastisch reduziert.
Dieses Phänomen ist kaum damit zu erklären, daß die zusätzlichen Belastungen mit den neuen politischen Amtspflichten eines außerordentlichen Nuntius es Chigi unmöglich gemacht hätten, sich ähnlich intensiv wie bisher um die innerkirchlichen Dinge zu kümmern; denn ab 1649, und besonders seit der Übersiedlung nach Aachen, verfügte Chigi nach dem überzeugenden Ausweis seines Tagebuchs über sehr viel Zeit. Große Politik ließ sich nach der Abreise der Kongreßgesandten in Münster nicht mehr machen; Aachen war dafür ein ähnlich schlechter Schauplatz. Das Tagebuch beweist deutlich: Chigi wartete auf die Abberufung und vertrieb sich die Zeit

Ugolino an Chigi, Rom 1649 VIII 21 (eig., chiffriert: Chig. lat. A III 66 fol. 438/439´) hatte von Gerüchten aus nicht schlechter Quelle berichtet, wonach Chigi an die Spitze des Staatssekretariats kommen solle, doch wisse man noch nicht, was dann aus Kardinal Panziroli werden solle. Nach dessen Tod, am 3. September 1651, berichtete ders. an dens., Rom 1651 IX 9: es gehe allgemein das Gerücht, daß Chigi Staatssekretär werde; ders. an dens., Rom 1651 IX 16: der interimistische Leiter des Staatssekretariats, Kardinal Spada, habe Ugolino rufen und durchblicken lassen, daß Chigi Staatssekretär werde (eig., ebd. fol. 578/579´ und 580/580´).
. Gewiß hat der Nuntius auch in Aachen eine innerkirchliche Wirksamkeit ausgeübt, wie seine Aktivitäten bei

[p. XXXIV] [scan. 34]

den Auseinandersetzungen im Augustinereremitenorden (Frühjahr 1650

Darüber viele Akten in NAC 180.
) und seine Reise zu der längst überfälligen Koadjutorwahl (Sommer 1650) nach Trier beweisen. Auch blieb Lüttich weiterhin ein zentraler Aufgabenbereich für Chigi als Kölner Nuntius. Aber wenn er am 10. Januar 1651 in seinem Tagebuch festhält: mi trattengo a passeggiare al trucco, so ist das für seine Situation in Aachen doch sehr bezeichnend. In Köln (und auch in Münster bis zum Friedensschluß) hatte er keine Zeit zum Truccospielen. Was der Nuntius täglich tut und nicht tut, ist offenbar viel stärker von seinem Residenzort abhängig, als man meinen möchte, wenn man nur den schriftlichen Überrest der damaligen Verwaltungstätigkeit berücksichtigen wollte, um zutreffende Rückschlüsse auf die tatsächliche Funktion eines Nuntius zu ziehen. Kölns Bedeutung als katholi-sches Zentrum zur Zeit Chigis ist kaum zu überschätzen. Das kirchliche Leben gravitiert weniger zur jeweiligen Residenz des Nuntius als vielmehr zur rheinischen Metropole.
Mit dieser Feststellung ist auch der zweite Punkt berührt, auf den das Chigi-Tagebuch eindringlich hinweist: es sind nicht die Diözesanbischöfe die eigentlichen Verhandlungs- und Ansprechpartner des Nuntius. Mit dem Erzbi-schof von Köln, der jedoch als Kurfürst nicht in der Stadt residieren konnte, ist Chigi zwar mindestens zehnmal zusammengetroffen

Vgl. DCh 1641 XII 18; 1642 II 4, 10, III 28, VIII 10, IX 11; 1643 VI 8, 12, VIII 5, IX 3; wahrscheinlich auch 1643 XII 20. Charakteristisch ist, daß Nuntius und Erzbischof in der entscheidenden Phase für die Kölner Koadjutorwahl, 1640, keinen direkten Kontakt pflegten. – Dementsprechend sachlich, aber blaß, ist die eig. Notiz Chigis, die den Briefen des Kurfürsten Ferdinand an Chigi in Chig. lat. B I 2 fol. 76/103, 105/255 (= 1639 VII 24 bis 1650 VIII 22) vorhergeht: Ferdinando elettore die Baviera era fratello del duca Massimiliano elettore di Baviera, et insieme finché visse fu vescovo di Liegi, di Munster, d’Ildesein, e di Paderborna, pio signore, amico della caccia, e che non si ordinò mai sacerdote. morì nel 1650 lassando il nepote figlio del duca Alberto per suo coadiutore, che fu elettore, e vescovo di Liegi, e di Ildesein.
; aber das waren offizielle Begegnungen, Akte der Courtoisie, vom Zeremoniell gefordert, bei denen nicht verhandelt, sondern bestenfalls das vorher vom Nuntius mit den kurkölnischen Räten Ausgehandelte bekräftigt wurde. Nicht jedoch der Erzbischof, sondern sein Offizial ist ständiger Besucher in der Nuntiatur. Er gehört zu dem Kreis der zwei, drei Dutzend Ordensoberen (nicht nur Jesuiten!) und Stiftsherrn, die alltäglich beim Nuntius zu persönlichen Verhandlungen erscheinen, mit denen Chigi kooperiert, sich berät, denen er Aufträge erteilt, die ihn um Unterstützung bitten und sich seiner Hilfe im eigenen Wirkungskreis versichern. Der Nuntius schaltet sich in die Verwaltung und Regierung der Ortskirche nur durch indirekten Kontakt mit dem Erzbischof ein, der gleichzeitig Ortsbischof in Hildesheim, Paderborn, Münster und Lüttich ist, vor allem aber durch direkten Kontakt mit jener kleinen Führungsschicht von Kanonikern und Ordensprie-stern, die tatsächlich die Verwaltung und Regierung tragen, die den Alltag bestimmen und die großen Entscheidungen so vorbereitet haben, daß deren

[p. XXXV] [scan. 35]

Vollzug sich nahezu prozeßhaft ergibt. Mit dieser weniger nominellen als tatsächlichen Führungsgruppe der Kirche hat Chigi nach dem Ausweis seines Tagebuchs in einem ganz dichten Geflecht ständiger persönlicher Kontakte gestanden, solange er in Köln residierte. Seine Besucherliste aus den Jahren in Münster und Aachen nimmt sich in dieser Hinsicht erheblich kleiner aus, ohne daß der wegfallende persönliche Kontakt durch erhöhtes Korrespondieren ausgeglichen worden wäre. Das ist bemerkenswert.
Der Ertrag schließlich, den das Chigi-Tagebuch für die Sozial- und Kulturge-schichte abwirft, ist insofern bedeutend, als diese Quelle ja nichts anderes als »Alltag« im wahrsten Sinne des Wortes festhält. Das findet sich anderswo selten; deshalb ist der Gedanke, nur eine unter bestimmten Fragestellungen gekürzte Fassung des Chigi-Tagebuchs herauszubringen, verworfen worden. Es ist natür-lich für die Geschichte des Westfälischen Friedens und auch für die Geschichte der Kölner Nuntiatur unter Chigi gänzlich belanglos, daß dieser am 29. August 1651 einem jungen Häschen auf der Wiese Beine machte ( DCh 1651 VIII 29); aber es ist kultur- und sozialgeschichtlich recht interessant, daß der Friedensver-mittler von Münster und künftige Kardinalstaatssekretär das nicht nur tut, sondern auch in seinem Notizbuch festhält. Hingegen bieten die leider nicht ganz regelmäßigen, aber doch häufigen Notizen über das Wetter wertvolle klimageschichtliche Ergänzungen – wir befinden uns ja noch in einer Zeit ohne kontinuierliche apparative Messungen

Auch das Diarium Lamberg (APW III C 4) enthält ähnliche Wetternotizen wie das Chigi-Tagebuch. Die beiden einander ergänzenden Angaben ließen sich klimageschichtlich durchaus verwerten.
. Von besonderem, nicht nur biographi-schem und medizingeschichtlichem, sondern allgemein-historischem Interesse dürften auch die offenbar sehr regelmäßigen Aufzeichnungen über Krankheit und Gesundheitsfür- und -vorsorge sein, die Chigi sich notiert hat. Das ständige Purgieren, Klistieren und Aderlassen mit der Beschreibung seiner unmittelbaren Wirkung oder Wirkungslosigkeit war für den Tagebuchschreiber wahrscheinlich deshalb so wichtig, weil er seine eigenen Körperfunktionen nur rational kontrollieren konnte, wenn er die Dinge im Tagebuch festhielt. Dabei geht es nicht nur um sein Steinleiden, um die Vorgeschichte und die Verlaufsgeschichte der Operation am 8. und 17. November 1642 mit ihren Folgen, deren Beschreibung auch medizingeschichtlich interessant ist

Meinem Bonner Kollegen für Medizingeschichte, Prof. Nikolaus Mani, danke ich für bestätigende Auskünfte, besonders aber seiner Mitarbeiterin Dr. Charlotte Schubert, die mich auf die vergleichbaren, aber anderen Fälle Michelangelo, Montaigne und Samuel Pepys hinwies.
, weil die postoperative Phase hier aus der Sicht des Patienten festgehalten ist. Chigi hat nach dieser Operation immerhin noch 25 Jahre lang gelebt und wirken können; die Qualen waren also nicht vergeblich ertragen worden. Auch in den Jahren danach, als er über eine relativ gute Gesundheit verfügte, war das körperliche Wohlbefinden und das Kurieren kleinerer Erkrankungen Gegenstand sorgfältiger Beobachtung

[p. XXXVI] [scan. 36]

durch Chigi, so daß seine Vorbeugungsmaßnahmen und Kuren, die Arzneien und die Ärztebesuche genau zusammengestellt werden können

Vgl. zum Beispiel DCh für 1649: I 1, 10, 12, 14, 21, 24, II 4, IV 8, 26, 27, 28, 29, 30, V 2, 3, 4, 5, 6, 7, 10, VI 2, 15, 16, 17, 19, 30, VII 14, 15, VIII 21, IX 21, 22, 23, 24, 25, 27, 28, 29, 30, X 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 11, 19, 21, 23, 25, 26, 27, 28, XI 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 15, 16, 17, 21, 26, XII 19, 28.
.
Die sozial- und kulturhistorischen Beobachtungen über das Leben des päpstli-chen Diplomaten in Deutschland von 1639 bis 1651, die sich aus seinem Tagebuch ergeben, sind viel zu zahlreich, als daß sie hier auch nur im Gröbsten einigermaßen vollständig umschrieben werden könnten. Das Chigi-Tagebuch führt uns in eine hohe Gesellschaftsschicht, deren Lebensstil sich von demjenigen der breiten Bevölkerungsschichten damals ganz erheblich unterschied

Über den Lebensstil der Diplomaten des Westfälischen Friedenskongresses nunmehr mit einer Fülle systematischer Beobachtungen F. Bosbach.
. Was wir bei Chigi finden, ist außerdem nicht einmal für die kleine Schicht, zu der er zählte, unbedingt typisch: nicht jeder Nuntius dieser Zeit verfaßte eigene lateinische Gedichte und pflegte literarische Kontakte, durch einen ausgedehnten Briefwechsel in die halbe Welt hinein

Das allermeiste ist ungedruckt. Einige Bruchteile der Korrespondenzen mit Holstenius, Malvezzi und Rossi sowie mit P. Karl von Arenberg OFMCap, Caramuel und Van der Veken bei G. Incisa della Rocchetta, Nunziatura; der antijansenistische Briefwechsel, den A. Legrand /L. Ceyssens publiziert haben, wäre ergänzungsfähig. Insbesondere der dichte Brief-wechsel mit Van der Veken ist, über das Jansenismusthema hinaus, theologie- und frömmig-keitsgeschichtlich von größtem Interesse; es wäre im Vergleich mit der Arenberg-Korrespon-denz zu untersuchen; dazu vgl. F. Callaye.
, wie durch persönlichen Austausch am Ort

Zu den literarisch-poetischen Kontakten vgl. etwa DCh 1644 IV 22, 23, V 10, VI 30 (Saavedra); 1645 X 8 (Generini); 1648 XI 10, XII 19 (Bertaut), zu den Kontakten mit antiquarisch oder zeitgeschichtlich interessierten Historikern vgl. etwa DCh 1640 I 12 (Ägidius Gelenius), die mehrfachen Begegnungen mit Godefroy, aus dessen nachgelassenen Papieren Chigi sich Kopien anfertigen ließ ( DCh 1649 X 16, XI 4), oder das Gespräch mit Adami ( DCh 1649 XI 1).
; daß die Diplomaten sich untereinander mit kleinen Gefälligkeiten bedachten, war sicher allgemeine Sitte

Vgl. DCh 1644 IX 26 (christalli di Venetia), XI 14 (salsiccia), XII 18 (pernici); 1645 I 19 (formaggio di Parma), II 21 (prugne e mele), III 8 (giallatina und cotognate), III 20 (brugne), IV 14 (fagiani vivi). Mit Abschiedsgeschenken zum Kongreßende war Chigi äußerst zurückhaltend; vgl. 1647 III 21 (Herzogin Longueville); 1649 I 5 (Gräfin Lamberg), 115 (Gouvernante Lambergs), III 27 (Frau Nomis), IV 10 (Frau Brun).
, aber nicht jeder Diplomat achtete auf die Pflege und Bewahrung seiner amtlichen

Vgl. K. Repgen, Archiv.
und privaten Akten

Vgl. DCh 1643 XII 8; 1646 VIII 8; 1648 V 12, IX 30; 1649 II 4, 8, XII 24; 1650 I 26; 1651 I 17, 30, 31, II 7.
so sorgfältig wie Chigi; und nur wenige legten sich bei der Teilnahme am Gesellschaftsleben der Kongreßdiplomatie so deutlich Zügel an wie Chigi

Der Teilnehmerkreis der beim Nuntius zum Essen Eingeladenen ist in Münster nicht wesentlich von dem Kölner Kreis unterschieden. Einladungen und Gegeneinladungen zu den Friedensunterhändlern (mit Ausnahme Contarinis) fehlen.
.

[p. XXXVII] [scan. 37]

Sein Tagebuch ist eben wie ein Brennspiegel, in dem wir die Individualität seines Verfassers erkennen und also auch etwas Allgemeines fassen können. Das Leben im kirchlichen Köln des Dreißigjährigen Krieges und im Münster des Westfälischen Friedenskongresses sowie im Aachen der ersten Nachkriegsjahre, in denen der Krieg ringsum weiterging, erhält durch Chigis Notizen, trotz ihrer Nüchternheit, Farbe und Relief; denn es führt uns immer hinter die Fassaden und Kulissen – nicht, indem es verborgene Gedanken enthüllt, sondern indem es das Handeln, das Tun der Menschen als Faktizität festhält. Deshalb läßt sich auch der Mensch Fabio Chigi durch sein Tagebuch in seiner sozialen Welt und Kultur viel unmittelbarer fassen, als dies allein aus seinen zahllosen Briefen, die erhalten sind, möglich wäre. So erschließt sich uns ein politik-, kirchen-, kultur- und sozialgeschichtlich höchst interessantes Leben

Auf die Frage, ob Chigi sein Tagebuch für die autobiographischen, höchst wertvollen Aufzeichnungen benutzt hat, die G. Incisa della Rocchetta, Appunti publiziert hat, kann hier nicht eingegangen, noch weniger aber das Problem der Chigi-Biographie von S. Pallavicino im Lichte des DCh behandelt werden.
von damals.

3. Einrichtung der Edition

Editionen bewahren Überlieferung, bewahren aber läßt sich nur, wenn der Kreis derer, für die bewahrt werden soll, hinreichend bestimmt ist. Für die Edition des Chigi-Tagebuches in den APW ist nicht allein und nicht einmal vornehmlich an Benutzer gedacht, die sich mit dem Wirken und Leben Fabio Chigis befassen, sondern mehr an diejenigen, die in dieser (für sehr unterschiedliche Fragestellun-gen) zentralen Quelle nachschlagen wollen, um zuverlässige Daten und Fakten bei der Erforschung geschichtlicher Probleme zu gewinnen, mit denen Chigi in den Jahren seiner Kölner Nuntiatur in Beziehung getreten ist. Dem entspricht die Einrichtung des Textes, der Kommentierung und des Registers. Textgestaltung Das Chigi-Tagebuch ist die erste größere Quelle in italienischer Sprache im Rahmen der APW. Als 1965/66 das Manuskript dafür geschrieben und in den siebziger Jahren mit der Herstellung des Drucks begonnen wurde, lagen die 1980 publizierten »Empfehlungen zur Edition frühneuzeitlicher Texte« noch nicht vor

Erschienen im Jahrbuch der historischen Forschung, S. 85–96, hier 90–93.
. Dankenswerterweise enthalten diese auch – im Unterschied zu den älteren Schultzeschen Richtlinien – Empfehlungen für Texte in italienischer Sprache. Sie sind im großen und ganzen von den hier angewandten Regeln nicht sehr unterschieden, obgleich es im einzelnen Abweichungen gibt.
Ausgangspunkt meiner Überlegungen für die Textgestaltung war der von Schultze für Texte in deutscher Sprache aufgestellte Grundsatz, daß »insbeson-dere bei eigenhändigen Schriften hervorragender Persönlichkeiten« eine »buch-stabengetreue Wiedergabe« gerechtfertigt sei

J. Schultze S. 8 (Punkt 24).
. Dieser Grundsatz schien auf

[p. XXXVIII] [scan. 38]

diesen Fall anwendbar und seine Beachtung angebracht; denn Fabio Chigi, der künftige Papst Alexander VII, gehört doch wohl zur Gruppe der »hervorragen-den« Persönlichkeiten. Andererseits ließ sich bei der Fülle der Abkürzungen im Chigi-Tagebuch und bei den nicht mehr eindeutig kurrentschriftlichen Eintra-gungen der abstrakte Grundsatz der »Buchstabentreue« nicht verwirklichen. Der Editor mußte also in den Textbefund mehr normalisierend eingreifen, als »eigentlich« erwünscht war.
Diese Normalisierung konnte jedoch – entgegen Schultzes Richtlinien – nicht immer auch auf die Interpunktion angewendet werden. Chigi hat nämlich oft, aber nicht immer, am Zeilenende und nach einer Abkürzung das Interpunk-tionszeichen, das man erwarten sollte, weggelassen. Würde der Editor hier nach seinem Textverständnis eingreifen und sinngemäße Interpunktionen einfügen, so müßte er dem Benutzer in manchen Fällen seine eigene Interpretation aufzwin-gen – in manchen, nicht in allen. Wenn Chigi zum 23. Dezember 1644 festhält, daß zuerst Contarini, dann Volmar bei ihm gewesen und daß Contarini um 12 Uhr gegangen sei, während er (Chigi) um 2 Uhr bei Contarini angekommen sei (vien da me il sig. Volmar, e | prima, e poi il sig. ambasciatore di Venetia, si parte alle 12 | alle 2 sono da S. E.), so ersetzt das Zeilenende hinter 12 das fehlende Komma; der Sinn ist jedoch eindeutig so, daß die erste Zeitbestimmung (12 Uhr) sich auf den Weggang des Venezianers, die zweite (2 Uhr) auf den Weggang des Nuntius bezieht. In diesem Falle könnte der Editor also die Interpunktion ohne sinnverändernde Interpretation vornehmen. Es gibt aber andere Fälle, in denen dies nicht möglich ist. Nach Chigis Tagebuch ist der Urkundenaustausch der Vollmachten zwischen Kaiserlichen und Franzosen am 16. Februar 1645 so vor sich gegangen, daß sein Mitarbeiter Hodegius um 8 Uhr die französische Vollmacht den Kaiserlichen brachte und dann per don Severo la Cesarea a’ Francesi alle 10 il | Prefontene riporta la medesima a me. Setzte der Editor hinter 10 ein Komma, was die wahrscheinlichere, aber nicht die einzig mögliche Interpretation wäre – denn Chigi könnte auch notiert haben, daß Hodegius und Severus gleichzeitig um 8 Uhr zu beiden Delegationen aufgebrochen seien und Préfontaines den kaiserlichen Text um 10 Uhr zurückge-bracht hätte –, so würde dem Benutzer ein Tatbestand als sicher vermittelt, für den eine Sicherheit nicht zu gewinnen ist, jedenfalls nicht aus diesem Text. Einen dritten Fall bietet das Tagebuch zum 12. Januar 1646: alle 11 vien da me l’ambasciatore di Venetia | e poi i Cesarei con la plenipotenza rifatta del conte Trautmanstorff alle 3 | vo dal sig. ambasicatore di Venetia usw. Haben die Kaiserlichen um 3 Uhr die erneuerte Vollmacht Trauttmansdorffs gebracht, oder ist Chigi um 3 Uhr zu Contarini gegangen? Beide Interpretationen wären möglich, weil der Name Trauttmansdorffs abgekürzt geschrieben worden ist und die Zeitangabe am Zeilenende steht. Aus diesen Umständen ergibt sich, daß der Editor die wegen der Interpunktions-eigenart Chigis unvermeidliche Uneindeutigkeit des Textes nicht durch Zufü-gung eigener Interpunktion in Eindeutigkeit verwandeln darf – es sei denn, man bezeichnete jede vom Editor vorgenommene Interpunktion durch irgendeine

[p. XXXIX] [scan. 39]

Form von Klammer, was aber ein unannehmbar kompliziertes Schriftbild ergäbe; außerdem könnte der Wegfall einer im Text Chigis noch vorhandenen Interpunktion, die sich durch Auflösung der Abkürzung ergibt, auf diese Weise doch nicht bezeichnet werden.
Ein drittes Problem bietet schließlich die von Chigi ganz unterschiedlich gehandhabte Groß- und Kleinschreibung, wobei Groß- und Kleinbuchstaben sich bei ihm nicht immer eindeutig unterscheiden. Getreue Wiedergabe des Vorgefundenen würde hier eine Genauigkeit vortäuschen, die dem Text nicht eignet und die daher auch nicht vom Editor erstrebt werden soll. Schließlich ergibt sich, daß Chigi oft vorkommende Namen nicht immer gleich schreibt: Osnambrug und Osnamburg stehen nebeneinander. Da es das Ziel der Edition ist, einen Text zu bieten, der sich nah am Original orientieren, aber »lesbar« sein und keine sinnverändernde Interpretation des Editors enthalten soll, ergaben sich die editionstechnischen Regeln, die oben S. XVIIf. zusammengestellt sind. Es ist an dieser Stelle jedoch anzumerken, daß ein Hinweis auf tatsächliche, aber befremdliche Lesart sparsam erfolgt ist. Der Benutzer muß davon ausgehen, daß der gedruckte Text einer Vorlage entspricht, die – ihrem Charakter gemäß – viele Schreibfehler enthält. Kommentierung Es sind oben bereits grundsätzliche Gesichtspunkte für die Kommentierung des Chigi-Tagebuchs herausgestellt worden. Daher kann ich mich hier kurz fassen. Der Kommentar rechnet mit einem Benutzer, der das Chigi-Tagebuch punktu-ell, für bestimmte Detailfragen, heranziehen will und geht davon aus, daß dieser Benutzer, soweit er nicht an der Chigi-Biographie direkt interessiert ist, Information zu bestimmten Daten oder Personen sucht. Einem solchen Besucher soll der Kommentar schnell und zuverlässig weiterhelfen. Wie ich dabei vorgehe, zeigt der im folgenden schon einmal vorweg abgedruckte Kommentar zum 9. und 10. Dezember 1639. Er soll so aussehen: 1639 XII 9 Fra Giovanni] Giovanni Battista Bichi JO. P. Orione] P. Johannes Horion SJ. dottor Snellio] vermutlich Lizenziat Gottfried Schnell. Felice Lugo] segretario delle cose domestiche des Kardinallegaten Martio Ginetti (vgl. L. Queba e Tuna, S. 222; F. J. von Bianco, Anhang, S. 110). S. Em.] Kardinallegat Martio Ginetti. arciduca d’Inspruc] vermutlich Erzherzog Ferdinand Karl von Tirol. sig. Guido] Guido del Pelagio. 1639 XII 10 arbori de principi] die hier gemeinten Fürstenstammbäume waren nicht zu ermitteln.

[p. XL] [scan. 40]

sig. Macchiavelli] wahrscheinlich Benedetto Macchiavelli.
don Micalagnolo] Michelangelo Bonci. sig. Marc Antonio] Marco Antonio Croce aus Tivoli, Sohn der Albania Croce geb. Ginetti, maestro di camera seines Onkels, des Kardinallegaten Ginetti (vgl. L. Queba e Tuna, S. 222; bei F. J. von Bianco, Anhang, S. 110 irrig als de Goa bezeichnet und aulae praefectus genannt). il P. Cappuccino] nicht zu ermitteln. pel Fuldese] ein ehemaliger Alumne des wegen der Kriegszeit nach Köln verlegten Fuldischen Kollegs, frater Daniel von Amöneburg, wollte Kapuzi-ner werden. Dazu bedurfte er einer Dispens von der früher eingegangenen eidlichen Verpflichtung, die Ausbildung im Fuldischen Kolleg zu Ende zu absolvieren. Nachdem diese Dispens unter der Bedingung gewährt worden war, die Ausbildungskosten zurückzuerstatten, die ca. 150 Reichstaler ausmachen sollten, bedurfte er zum endgültigen Eintritt in den Kapuziner-orden einer Dispens von dieser Rückzahlungsverpflichtung. Diese ist schließlich am 4. Januar 1641 mit päpstlicher Zustimmung gewährt worden (vgl. H. Tüchle, Acta S. 472, 478, 490 sowie A. Jacobs S. 30, FN 93). An dem Kommentar zu diesen beiden Tagen lassen sich insgesamt fünf verschiedene Kommentierungsprobleme und die dafür hier gefundene Lösung erläutern. 1. Fall: Das DCh enthält allein den Vornamen einer Person. Hier ist das der Fall für fra Giovanni, sig. Guido, sig. Marc Antonio und don Micalagnolo. In diesen Fällen fügt der Kommentar regelmäßig den Familiennamen, falls bekannt, hinzu. Ist die Person bereits früher im DCh aufgetreten und daher zum Datum der erstmaligen Erwähnung biographisch erläutert worden (was hier für Giovanni Bichi und Guido del Pelagio zutrifft), so läßt diese Erläuterung sich über das Register, wo sie ausgewiesen ist, unschwer finden. Taucht der Vorname zum ersten Male auf, so ist eine kurze biographische Erläuterung zugefügt. Läßt sich der Familienname nicht ermitteln, so wird dies beim erstmaligen Auftreten des Vornamens vermerkt; ein solcher Vorname erscheint im Register mit dem fiktiven Familiennamen XYZ. 2. Fall: Das DCh enthält allein den Familiennamen einer Person, es gibt aber mehrere Personen des gleichen Familiennamens im Dch. Hier ist das der Fall für Snellio und Macchiavelli . In diesen Fällen wird der zugehörige Vorname (mit Angabe des Plausibilitäts-grads der Ergänzung) vom Kommentar regelmäßig hinzugefügt. Die weiteren biographischen Daten sind wie im Fall 1 durch das Register zu erschließen. Läßt sich der Vorname nicht ermitteln, so wird dies beim erstmaligen Auftreten des Familiennamens vermerkt; ein solcher Familienname erscheint im Register mit dem fiktiven Vornamen ZYX. 3. Fall: Das DCh enthält allein den Titel einer Person. Hier ist das der Fall bei S. Em. In diesen Fällen fügt der Kommentar regelmäßig Familiennamen, Vornamen

[p. XLI] [scan. 41]

und amtliche Stellung hinzu. Die biographischen Daten, soweit bereits früher erläutert, sind wie im Fall 1 durch das Register zu erschließen.
Von dieser Regel wird für das DCh vom 19. März 1644 bis 12. Dezember 1649 abgegangen. In dieser Zeit des Friedenskongresses werden einige ständig wieder-kehrende Amtstitel (wie: sig. ambasciatore di Venetia, mons. vescovo di Osnambrug, i plenipotentiarii Cesarei usw.) durch den einfachen Namen (Contarini, Wartenberg, Nassau/Volmar usw.) ersetzt, um den Kommentar nicht durch ständiges Wiederholen des gleichen zu überlasten. 4. Fall: Das DCh notiert ein Stichwort über ein Amtsgeschäft, mit dem Chigi zu tun hatte. Hier ist das der Fall bei dem Kapuzinernovizen Daniel von Amöneburg, der vorher das von Jesuiten geleitete Fuldische Kolleg in Köln besucht hatte. In diesen Fällen beschreibt der Kommentar unter Heranziehung der Literatur und der ungedruckten Chigi-Akten den Vorgang kurz – soweit möglich. Auf den gleichen Vorgang sich beziehende spätere Erwähnungen im DCh werden vom Kommentar durch Rückverweisung auf die Erläuterung an der früheren Stelle erklärt. In diesem Falle trifft das zu für DCh 1640 II 4, 11, III 1, 30, IV 16. 5. Fall: Das Tagebuch bringt einen Namen in einer anderen Schreibweise als der Kommentar. Hier ist das der Fall bei P. Horion SJ (= Orione). In diesem Falle ( Snellio = Schnell – Fall 2 liegt ähnlich) bringt der Kommentar den Namen in der korrekten Schreibweise und fügt den Vornamen hinzu. Die biographischen Daten sind wie im Fall 1 durch das Register zu erschließen. Das Register enthält auch ein vollständiges Verzeichnis aller unkorrekt geschrie-benen Namen mit Verweis auf die korrekte Schreibung. ★ ★ ★ Auf diese Weise, hoffe ich, kann das Chigi-Tagebuch ein nützliches Nachschlage-werk werden – nicht nur für die Geschichte des Westfälischen Friedens, sondern überhaupt für das letzte Jahrzehnt des Dreißigjährigen Krieges. Auf einen Umstand aber muß noch aufmerksam gemacht werden: das Problem einer Plausibilitätsskala. Ohne dies im einzelnen zu begründen (weil eine solche Begründung ins Uferlose führen würde), gibt der Kommentar an, daß der licentiato Snellio, der wegen Prozessen ( cause) beim Nuntius war, »vermutlich« mit Dr. Gottfried Schnell zu identifizieren ist, der sig. Macchiavelli, dem Chigi die Fürstenstammbäume zurückschickt, aber »wahrscheinlich« Benedetto Macchiavelli gewesen sei – Bruder des Prälaten Francesco Maria Macchiavelli und in dessen Gefolge in Köln. Die Bezeichnung »wahrscheinlich« und »vermutlich« ist bewußt gewählt und wird im Kommentar in standardisierter Form verwendet. Dieser geht davon aus, daß sich die uneingeschränkt indikativischen Aussagen auf (durch Quellennachweis oder Logik) ausreichend beglaubigte Tatsachen stützen und beziehen. Hingegen ist ein weiter Bereich des zu Kommentierenden nur mit unterschiedlich plausiblen Hypothesen erklärbar. Hier benutze ich in standardi-

[p. XLII] [scan. 42]

sierter Form eine Skala, die vom relativen Maximum zum relativen Minimum hypothetischer Glaubwürdigkeit reicht und so aussieht:
  • – sicherlich
  • – sehr wahrscheinlich
  • – wahrscheinlich
  • – vermutlich.
In diesen vier Fällen handelt es sich also nicht um Nachweis von Tatsächlich-keit, sondern um Aussage über unterschiedlich plausible Annahmen, für die man zwar Gründe finden kann, die aber auch im besten Falle die Ebene des Hypothetischen nicht überwinden. Noch einmal dem logischen Status nach davon getrennt sind die Fälle zu behandeln (und zu formulieren), in denen man Noch-Denk-Mögliches zur Erklärung bringen kann, aber nicht einmal eine Vermutung äußern möchte, weil zu wenig Verifizierungs- und Falsifizierungsargumente beigebracht werden können. In solchen Fällen spricht der Kommentar von
  • – möglich.
Die Benutzbarkeit dürfte auf diese Weise den Mangel, der in der Verwendung derartig standardisierter Formeln für hermeneutisch erschlossene Phänomene liegt, aufwiegen. Das höchste Gebot, an dem ein Editor sich orientieren kann, ist Genauigkeit. Sie wird durch die erläuterte Plausibilitätsskala erheblich erhöht. Das rechtfertigt dieses Vorgehen.

Documents