Acta Pacis Westphalicae III A 3,1 : Die Beratungen des Fürstenrates in Osnabrück, 1. Teil: 1645 / Maria-Elisabeth Brunert
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III. Der Erste Entwurff
des Gutachtens der Evangelischen Staende zu Oßna-brueck,
das Vollstaendige Gutachten
und die Gravamina Evangelicorum
Siehe Nr.
[24 Anm. 1] (zum
Ersten Entwurff
), Nr. 41 Anm. 1 (zum Vollstaendigen Gutachten
) und Nr. 59 Anm. 3 (zu den Gravamina Evangelicorum
).
Der
Erste Entwurff war das Ergebnis der im Oktober 1645 unter sachsen-alten-burgischem Direktorium und in deren Quartier abgehaltenen Ausschußsitzun-gen
Von diesen sind fünf durch Protokolle dokumentiert (s. Nr.
[24–28] ). Weitere Sitzungen sind nur durch Diariumseinträge bezeugt (s. Nr.
[28 Anm. 50] ).
. Die Deputierten hatten gleichzeitig über die schwedische und französische Proposition II und die entsprechenden kaiserlichen Responsionen beraten; Leitfa-den war die schwedische Proposition gewesen, die sie Artikel für Artikel durchge-gangen waren. In der vierten Sitzung wurde die Arbeit aufgeteilt: Thumbshirn und Carpzov übernahmen die
Gravamina ecclesiastica, Otto die
Gravamina politica. Oelhafen wollte den Justizpunkt bearbeiten, und Lampadius reservierte sich Artikel 1, 2, 3, 5 und 6 der schwedischen Proposition und damit grundle-gende, verfassungsrechtliche Fragen (Wahl des römischen Königs, Befugnisse des Reichstages, Bündnisrecht der Reichsstände) und zentrale Punkte, die Krieg und Friedensschluß betrafen (kriegführende Parteien, Kriegsbeginn, Partner des Frie-densschlusses, Amnestie)
.
Noch bevor die Diktatur des
Ersten Entwurffs beendet war, traten die evangeli-schen fürstlichen Gesandten am 10. November zusammen
. Die Eile war durch Madgeburgs Furcht begründet, daß das gerade in Osnabrück eintreffende österrei-chische Direktorium ansagen lassen würde und damit die Evangelischen an den von Magdeburg geleiteten
conferentien hinderte. Der Admissionspunkt war im-mer noch nicht geregelt, so daß die
Exclusi mit ihrem Ausschluß rechnen mußten. Heher beruhigte zwar, er habe in Münster deutlich gemacht, daß die evangeli-schen Gesandten erst nach Admission der fraglichen Stände einer Ansage folgen würden
, doch wickelte man trotzdem die Beratung des
Ersten Entwurffs inner-halb von fünf Tagen sehr zügig ab. Am 21. November wurde der korrigierte
Erste Entwurff verlesen
. Am 25. November beschloß die Mehrheit der Gesand-ten, daß das Gutachten nach vorheriger Beratung im Reichsstädterat und einer Einigung mit den Reformierten dem österreichischen Direktorium in Osnabrück übergeben werden solle
. In den nächsten vier Sitzungen
berieten die Gesandten über weitere Ergänzungen und Korrekturen an dem
Entwurff, der durch die viel-fachen Änderungen und Einschübe zu dem als
Vollstaendiges Gutachten überlie-
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ferten Text wurde
Siehe Nr.
[41 Anm. 1] . Die dort angegebene handschriftliche Fassung wurde am 15. Dezember 1645 überschickt, so daß dieser Termin einen Orientierungspunkt bei der Datierung des
Voll-staendigen Gutachtens bildet.
. Trotz angestrebter Geheimhaltung war der
Entwurff schnell bekanntgeworden
Die frz.
Ges.
kannten den Text spätestens am 24. November (s. Nr.
[41 bei Anm. 39] ).
und hatte bei nicht wenigen Anstoß erregt. Deshalb beschloß der Fürstenrat am 14. Dezember, die
Gravamina ecclesiastica zusammen mit dem Justizpunkt auszugliedern und getrennt zu übergeben, die Auslieferung des übrigen aber zurückzustellen
Siehe Nr.
[48] . Das
Vollstaendige Gutachten
wurde also in der Form, wie es bei
Meiern
I, 801–831,
abgedruckt ist, nie übergeben oder ausgelieffert,
wie das Lemma bei
Meiern
irri-tierenderweise besagt.
. Zwar enthielten auch die
Gravamina genügend Angriffspunkte, doch waren sie größtenteils seit langem bekannt und konnten des-halb kaum Entrüstung hervorrufen. Ferner wurde erwogen, daß die katholischen Stände das Gesamtbedenken nicht annehmen würden, da sie das magdeburgische Direktorium nicht anerkannten. In
causis communibus würden die katholischen Stände sich jedoch nicht separieren, so daß man auf ihre Unterstützung rechnen könne. Wichtig war vor allem, daß Oxenstierna geraten hatte, die
Gravamina herauszugeben. Die Schweden warteten auf deren Publikation, um sie in ihrer Replik zu verwenden
Rat Oxenstiernas, nur die Gravamina
herauszugeben: s. Nr. 48 Anm. 7; Schweden benötigte die Gravamina
für die Replik: Nr. 56 Anm. 39.
. Eine Reihe wichtiger Forderungen fand sich dann tatsäch-lich in der am 7. Januar 1646 veröffentlichten Replik und verursachte die erwar-tete Empörung. So gab sich Trauttmansdorff sehr erregt über das Stichjahr 1618 für die verlangte Amnestie und meinte,
man begehre eine anarchiam
. Die sachsen-altenburgischen Gesandten hatten solche Reaktionen vorausgesehen und die Publikation der Repliken abwarten wollen, da die Kronen
in vielen das odium von den evangelischen Ständen ablenken würden
Siehe Nr.
[48] , erstes Votum Sachsen-Altenburgs.
.
Nachdem die Fürstlichen auch das reichsstädtische Votum Curiatum ueber den im Fuersten=Rath gemachten Aufsatz
angehört, beraten und gewissen Ände-rungswünschen zugestimmt hatten, wurden die Gravamina ecclesiastica
am 25. Dezember den kaiserlichen und schwedischen Gesandten sowie am 26. Dezember Kurmainz für die katholischen Stände übergeben
. Einen Tag später beschlossen die Fürstlichen, daß so bald wie möglich, und zwar in Osnabrück, mit den katho-lischen Ständen über die Gravamina verhandelt werden solle. Sie benannten De-putierte und versuchten, eine baldige Herausgabe der katholischen Gravamina zu erwirken
, doch zog sich diese noch bis zum 8. Februar 1646 hin
.
Unterdessen wurde die Arbeit am Ersten Entwurff
bzw. dem Vollständigen Gutachten
fortgesetzt. Man sah den Wert allein schon darin, daß man sich einer
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gewißen meinung vergliechen, davon ex inconstantia nicht abzuschreiten
Nr.
[48] , erstes Votum Sachsen-Altenburgs.
.
Die Beratung über das Reichs=Staedtische Votum Curiatum,
die sich bislang nur auf die Gravamina und den Justizpunkt erstreckt hatte, wurde zu Ende geführt
. Als die Repliken der Kronen vorlagen, beschloß man, das Gutachten
nach Maß-gabe der schwedischen Replik zu überarbeiten und bei den bevorstehenden sessio-nes publicae
Punkt für Punkt von dem ersten Votanten der Evangelischen vor-tragen zu lassen; die Nachstimmenden könnten es dann gutheißen oder auch mo-difizieren. So sei die aufgewendete Mühe nicht unnütz gewesen, und die Evange-lischen führten ein einheitliches Votum
Siehe Nr.
[82 bei Anm. 27] (= Sachsen-Altenburg) und das darauf folgende braunschweigische Votum sowie Punkt 3 des Conclusums. Die Überarbeitung begann am 29. Januar 1646 (s. Nr.
[86] ).
. Der sachsen-lauenburgische Gesandte schlug zwar noch einmal vor, ob es nicht doch als formalisiert bedencken
über-geben werden solle, falls Kurmainz die Ansage verzögere
Siehe Nr.
[86] , zweite Umfrage, Votum Sachsen-Lauenburgs.
. Doch diese Sorge war überflüssig, denn am 3. Februar begannen endlich die Osnabrücker Fürstenratssit-zungen unter österreichischem Direktorium, die sich durch eine Unpäßlichkeit Richtersbergers zuletzt noch um einige Tage verzögert hatten
. Die durch ihre langen und intensiven Beratungen gut vorbereiteten Evangelischen konnten guten Gewissens daran teilnehmen, da die Exclusi
inzwischen zugelassen worden wa-ren. Die Admission Hessen-Kassels, Baden-Durlachs und Nassau-Saarbrückens, über die hauptsächlich in Münster verhandelt wurde, war schon im November bewilligt worden
. Katholische und evangelische Deputierte berieten abschlie-ßend vom 19. bis 22. Dezember 1645 über die Zulassung Magdeburgs
. Zuletzt ging es um die Sitzordnung im Rat und den Titel des Administrators. Man einigte sich schließlich auf die Session zwischen der geistlichen und weltlichen Bank und die Formulierung Postulierter zum Erzbischof.
Die Bedingungen seiner Admis-sion enthielt der ausgehandelte Revers, der auf den 11. [
/21.]
November datiert ist, tatsächlich aber erst am 22. Dezember endgültig formuliert wurde
. Erst am 31. Januar 1646 wurde über die von Fürsten und Ständen verlangte Zusage be-raten, anderen evangelischen Erz- und Bischöfen keine Assistenz zu Votum und Session zu leisten
. Damit waren alle Bedingungen für die Admission des Erzstifts erfüllt und die evangelischen Reichsstände von dem Versprechen, das sie Oxen-stierna gegeben hatten, entbunden.
Obgleich der Erste Entwurff
bzw. das Vollstaendige Gutachten der Evangeli-schen Staende
in fast jedem der 18 Artikel bedeutsam und die Diskussion über dieselben aufschlußreich erscheinen, können hier nur zwei Aspekte herausgegriffen
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werden. Der eine hatte großen Einfluß auf die Verhandlungen des Fürstenrats, und der andere charakterisiert die problematischen Beziehungen zwischen Kur-brandenburg und dem Fürstenrat. Gemeint sind der Einschluß der Reformierten in den Frieden und Gravamen Politicum IV,
in dem über Eingriffe,
die Fürsten-rat und Städterat von Seiten des Kurfürstenrats geschehen seien, Klage geführt wird.
In Artikel 4 der schwedischen Proposition, der dem Justizwesen gewidmet war, wurde über die Reformierten gesagt, daß sie im Religionsfrieden mit begriffen seien, weshalb für sie alles das gelten solle, was dort über die Evangelischen gesagt sei
. Es ging also um die politische oder administrative Einbeziehung der Refor-mierten
, oder, anders ausgedrückt, um die religionsrechtliche Frage, ob die Re-formierten in das paritätische, bislang auf Katholische und Augsburger Konfes-sionsverwandte beschränkte Verfassungssystem des Reiches offiziell einbezogen werden sollten. Salvius hatte auf Drängen Hessen-Kassels diesen Passus inse-riert
, weshalb es nicht erstaunt, daß die Reformierten an der Formulierung der Schweden nichts auszusetzen hatten. In der kaiserlichen Responsion wurde die Anerkennung der Reformierten an die von den Reformierten abgelehnte Bedin-gung geknüpft:
si ipsi velint & quiete vivant
. Die Mehrheit der Lutheraner sah im Kalvinismus eine aggressive, bedrohliche Kraft, gegen die sie sich schützen müsse. Typisch ist der Vorwurf des Straßburgers, die Reformierten griffen um sich wie der Krebs
. Deshalb wollten die Lutheraner ihnen zwar die reichsrechtliche Sicherheit, aber auf keinen Fall das Ius reformandi zugestehen. Die Ausschuß-mitglieder beschlossen, daß die Reformierten zur Sicherstellung der Lutheraner einen Revers ausstellen sollten. Ferner gedachte man, die Schweden als Vermittler einzuschalten
– durch sie war die Frage schließlich zum Verhandlungsgegen-stand geworden, keineswegs zur Freude der Lutheraner. Im
Ersten Entwurff wurden die Reformierten mit keiner Silbe erwähnt. Nachdem diese um Stellung-nahme gebeten hatten, berieten die Lutheraner über eine in ihr
Gutachten zu inserierende
Erklärung, nach der die Reformierten nur insoweit in den Religions-frieden einzuschließen seien, daß sie den Schutz und die Sicherheit desselben ge-nössen
Siehe Nr.
[36] ,
Conclusum.
.
Die Ablehnung der Reformierten war einhellig und entschieden. Die
Erklärung sei gefährlicher, als ein Jesuit sie hätte formulieren können, meinte Milagius
. Sie
beraube die Reformierten des Ius reformandi und sei ebenso wie die Ausstellung
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eines Reverses abzulehnen
. Die Reformierten blieben nunmehr den Fürstenrats-sitzungen fern, bis Sayn-Wittgenstein nach Osnabrück kam, um die Verhandlun-gen zu leiten
Siehe Nr.
[48] ,
[53] ,
[54] . Am 20. Dezember nahmen Milagius und Geißel wieder teil (s. Nr.
[56 Anm. 3] und
[4] ). Die Lutheraner mahnten die Reformierten, sich nicht zu separieren (s. Nr.
[48] ,
[49] ,
[50] ).
. Der Graf konnte Oxenstierna als Mediator gewinnen und über-gab ihm eine
Formel, die anstelle der abgelehnten
Erklärung dem
Gutachten inseriert werden sollte, was aber nicht geschah; auch die
Gravamina Evangelico-rum enthielten nichts über die Reformierten
. Daß die schwedischen Gesandten dem Standpunkt der Lutheraner zuneigten, zeigte sich bei Übergabe der
Grava-mina, als sie mit dem Bremer Deputierten eine auch theologische Fragen strei-fende Diskussion begannen
. Sicherlich war ihre zunehmend kritische Einstel-lung Reflex der negativen Resonanz des schwedischen Klerus und der Krone auf ihren Einsatz für die Reformierten
. Auch eine neue Instruktion der Königin
brachte im Januar 1646 keine Wende. Die schwedische Replik vom 7. Januar 1646 war für die Reformierten eine Enttäuschung, da dort nur Aufklärung über die Formel
si ipsi velint & quiete vivant erbeten wurde
. Entsprechend weiger-ten sich die Schweden, vor Veröffentlichung der kaiserlichen Duplik Erklärungen abzugeben, die über den Wortlaut ihrer Proposition hinausgingen
.
Die Reformierten kamen also bis zum Februar 1646 keinen Schritt über das hin-aus, was sie durch Artikel 4 der schwedischen Proposition erreicht hatten. Da sie sich zeitweise separierten, kam es im Dezember 1645 zu drei Sitzungen mit allge-meinen Beratungsthemen, an denen nur Lutheraner teilnahmen
. Außerdem gab es jeweils drei Sondersitzungen der Reformierten und der Lutheraner, in denen über den Einschluß der Reformierten in den Frieden debattiert wurde
. All diese Verhandlungen brachten jedoch kein Ergebnis: Die Lutheraner verwiesen die Re-formierten an die Schweden, und diese verwiesen sie auf die kaiserliche Duplik, so daß zunächst alles unentschieden blieb.
Bei der Beratung des Ersten Entwurffs
beanstandete der kurbrandenburgische Gesandte Wesenbeck, der im Fürstenrat für Pommern votierte, daß Fürsten- und Städterat dem Kurfürstenrat unterschiedene eingriffe
in ihre Rechte vorwar-fen
Siehe Nr. 34 bei Anm. 141.
. Daraufhin wurden zwar einzelne Änderungen in dem Artikel vorgenom-men, doch blieb das Wort eingriffe
stehen. Sehr schnell sprach sich herum, daß der Erste Entwurff sehr nachdencksame, bevorab wider der herren churfur-sten praeeminentz laufende sachen
enthalte. Diese Nachricht erreichte selbst ka-
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tholische
Gesandte in Münster, die sonst noch kaum etwas vom Ersten Entwurff
wußten
. Anfang Januar 1646 ließen die kurbrandenburgischen Prinzipalge-sandten offiziell durch den pommerschen Gesandten im Fürstenrat anfragen, ob auch der Kurfürst von Brandenburg mit dem Vorwurf gemeint sei, daß der Kur-fürstenrat dem Fürstenrat eintrag
tue
Siehe Nr. 76 bei Anm. 152.
. Die Gesandten waren über diese ange-muthete erklärung befrembdet
Siehe Nr.
[78] , zweite Umfrage, Votum Sachsen-Altenburgs.
.
Sie erinnerten daran, daß sie immer ganz eh-renvoll des brandenburgischen Kurfürsten gedacht hätten, außerdem nicht instru-iert seien, servilia consilia
zu führen. Auch gedachte man des schimpfs,
den die Kurbrandenburger dem Fürstenrat durch die mehrfache Annahmeverweigerung der Gravamina Evangelicorum
zugefügt hatten
. Da der pommersche Gesandte nicht um die Beantwortung seiner Anfrage anhielt, ließ man die Sache ruhen, um freundtschafft und glimpf zu erhalten
Siehe Nr.
[80] , Conclusum nach der dritten Umfrage.
.
Immerhin war es zu einer Anfrage Kurbrandenburgs gekommen, obgleich die
Gravamina Politica gar nicht offiziell übergeben worden waren. Wieviel mehr Unannehmlichkeiten hätten sich die evangelischen Fürsten und Stände eingehan-delt, wenn sie das
Vollständige Gutachten tatsächlich übergeben hätten! Die kleine Auseinandersetzung um die
eingriffe des Kurfürstenrats ist auch sympto-matisch für die Beziehungen der evangelischen Fürsten und Stände zu Kurbran-denburg. Sie waren vielfältigen Belastungen ausgesetzt durch den Exzellenztitel-Streit, durch die Auseinandersetzungen zwischen Reformierten und Lutheranern sowie schließlich auch durch die Gravamina des Fürstenrats über den Kurfürsten-rat. Hin und wieder wurden sie zusätzlich verschärft durch das heftige Tempe-rament Wesenbecks
. Eine geschlossene Linie aller evangelischer Reichsstände konnte deshalb nicht entstehen, so sehr die Fürstlichen dies auch begrüßt hätten.