Acta Pacis Westphalicae III A 1,1 : Die Beratungen der kurfürstlichen Kurie, 1. Teil: 1645 - 1647 / Winfried Becker

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4. Konsequenzen für die Textgestaltung dieser Edition Durch den zwei- oder mehrseitigen Austausch von Voten wurde die Eigenständigkeit der einzelnen Protokoll-Provenienzen relativiert, aber nicht aufgehoben. Vor allem die nachträgliche Verbesserung des eigenen Votums, nicht nur von Kurmainz geübt

Nr. [65 (1646 II 7: kurbayerisches Votum) S. 446.15] . Auch in den amtlich geführten Land-tagsprotokollen des 18. und den Kabinettsprotokollen des 19. Jahrhunderts blieb den Votanten das Recht zur Verbesserung ihrer eigenen Verlautbarungen ( Renger S. 97f., Rumpler).
, entzog das eigene Protokoll der Kontrolle durch andere Protokollanten auch dort, wo formulierungsmäßig Angleichung erfolgt war. Kurmainz protokollierte nach anfäng-licher Zusammenarbeit mit Kurbayern und Kurbrandenburg wieder selbständig. Kur-trier, anfangs mit eigener Wortwahl und Diktion, arbeitete zumindest seit Januar 1647 mit Kurbrandenburg zusammen. Das Protokoll Kurkölns weist in der Formu-lierung viele Anklänge an Kurbayern und Kurmainz auf, ist aber bis Ende 1647 neben der kurmainzischen die am meisten autogene Niederschrift. Kurbayern ver-fertigte sein Protokoll meist in Redaktionsgemeinschaft mit Kur-mainz und dann mit Kursachsen, ließ aber wohl stets ein eigenes Rapular führen. Kursachsen stimmte nach anfänglicher Eigenständigkeit sein Protokoll abwechselnd mit den anderen Kur-ständen ab, wobei es mehr nahm als gab. Kurbrandenburg ließ zunächst mit Kurmainz, dann mit Kurtrier zusammenarbeiten, was es aber nicht hinderte, durch seine zahlreichen und erfahrenen Protokollanten original mitschreiben und auch konzipieren zu lassen. Überhaupt sind der Austausch und die gemeinsame Redaktion von Proto-koll-Texten wohl nur im Falle Kursachsens auf eine schwach besetzte Gesandt-schaftskanzlei zurückzuführen, obwohl auch hier die Übernahme fremder Protokoll-Konzepte mit politischer Absicht geschehen ist. Während Kurmainz sich die eigen-ständige Konzipierung des Reichsprotokolls als Recht des sozusagen amtlich bestellten Protokollführers vorbehalten zu müssen glaubte

Siehe unten S. [CXV Anm. 4] , S. [CIX Anm 1] .
, wird bei Kursachsen das Bemühen spürbar, ein einheitliches Protokoll des Kollegs zu erstellen, das die Mitschriften aller Einzelprotokollanten einschloß. Zu einem Protokoll des Kurfürstenrats an-stelle der Protokolle im Kurfürstenrat ist es aber von keiner der beiden Seiten gekommen: Kurmainz war nicht der einzige Protokollant des Kollegs geblieben. Ein „ideales“ Protokoll auf der Grundlage des jeweiligen Votums jeder der sechs Proveni-enzen war nicht nur technisch schwer realisierbar, denn jeder Kurstand hatte zwar ein Interesse an der Weitergabe seines eigenen Votums, nicht aber an der beständigen Wort-für-Wort-Verzeichnung aller anderen Voten; Fremdvoten wurden vor allem bei wichtigen Themen, iura imperii, Amnestie, Satisfaktion und bei Gelegenheit programmatischer Äußerungen, die allgemein akzeptabel schienen, im eigenen Pro-tokoll zugelassen. Außerdem wollte jede Gesandtschaft die letzte Fassung des eigenen Votums, die für den Kurfürsten bestimmt war, sich offenhalten. Drittens wäre denk-bar gewesen, daß ein zwei- oder mehrseitig redigiertes Protokoll wie Kurtrier / Kurbrandenburg, Kurbayern / Kursachsen die Basis eines Einheitsproto-kolls abgegeben hätte; so wurde das Osnabrücker Fürstenratsprotokoll von einem Sekretärskonsortium aus verschiedenen Gesandtschaften konzipiert, das zur Proto-kollführung abgestellt wurde

Siehe oben S. [XCIII Anm. 6] .
: Bei der Vielzahl der Fürstenratsvoten wäre über Votenaustausch ein gemeinsames Protokoll kaum zustande gekommen. Dieser letzte-ren Möglichkeit zur Herstellung eines Kurfürstenratsprotokolls hätte sich vor allem Kurmainz widersetzen müssen, weil es zwar nicht das einzige, wohl aber ein bevor-zugtes Protokoll führte

Siehe oben S. [LXXIV Anm. 1] , S. LXXVI Anm. 4.
. Statt einer Integration der sechs Protokolle bzw. der authentischen Niederschrift eines legitimierten Protokollanten wurde im Kurkolleg gemeinsam-einheitliche Protokollführung nur in Ansätzen erreicht: in zwei- bis drei-seitiger Redaktion eines gemeinsamen Textes oder im temporären Austausch ver-schiedener Voten mit wechselnden Partnern. Erst 1648 werden die verschiedenen Kur-fürstenratsprotokolle durchweg textlich stärker aneinander angeglichen. Ihre Existenz und ihre vorwiegend partnerschaftlichen, gegenseitigen Abhängigkeiten machen deut-lich, daß die Protokollführung im Kurkolleg von den einzelnen Gesandtschaften während der ersten Jahre des Kongresses als Bestandteil ihrer sonstigen sorgfältig austarierten und abgewogenen, gleichen Prärogativen aufgefaßt worden ist.
Da eine abschließende Wiedergabe des Konferenzinhalts in Form eines einheitlichen Protokolls nicht geleistet worden ist, muß diese Aufgabe editorisch versucht werden. Die kritische Edition von Reichsratsprotokollen verschiedener Herkunft und Über-lieferungsform unterscheidet sich daher von der Edition eines autorisierten Protokolls anderer, etwa moderner Gremien, wo die Publizierung, z. B. in Form des steno-graphischen Berichts, eine wissenschaftliche Herausgabe praktisch ersetzt

Allerdings bringt die moderne Methode der Protokollierung auch besondere quellenkundliche Probleme mit sich: So finden z. B. die Reden deutscher Bundestagsabgeordneter erst nach Über-prüfung seitens der Redner im gedruckten Protokoll Aufnahme, ohne daß diese Kontrolle später aktenmäßig faßbar wäre wie die Verbesserung der Einzelvoten in den kurfürstlichen Protokollen 1645–1648.
.
1. Es geht bei Protokollen nicht um die Rekonstruktion eines einzigen Textes wie bei (Akten-)Schriftstücken, sondern um die annähernde Rekonstruktion dessen, was in den Konferenzen tatsächlich gesagt, aber in sechs eigenständigen Texten verschie-dener Provenienzen und Überlieferungsformen niedergelegt worden ist. Voraussetzung dafür ist, daß für jede Sitzung aus den überlieferten Protokoll-Provenienzen ein guter Text ausgewählt und sozusagen als Kommentar zu jeder Textstelle die sach-lichen Abweichungen der anderen Provenienzen in einem Variantenapparat vermerkt werden. Auch solche Redewendungen, die in einer Mehrzahl von Provenienzen ent-halten sind, müssen nicht wirklich gefallen sein. Bei den recht zahlreichen textlichen und sachlichen Divergenzen kann das Gesagte nicht mehr in allen Einzelheiten sicher erschlossen werden. Die Rekonstruktion muß bei dem Nachweis von Möglichkeiten stehenbleiben: Es lassen sich nur verschiedene Äußerungen oder – was häufiger ist – Nuancierungen von im Kern anscheinend klaren Aussagen dokumentieren. Zur Er-mittlung des Wirklichkeitsgrads dieser Aussagevarianten gibt es nur Anhaltspunkte, abgesehen von historischen Aussagen im Text, die in der Regel durch Anmerkungen erläutert worden sind: Wenn eine einprägsame Wendung und womöglich bildliche Umschreibung in verschiedenen, sonst textlich voneinander abweichenden Provenienzen

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auftaucht, ist sie mit großer Wahrscheinlichkeit verwendet worden

Kurbayerns Vorwurf in Nr. [66 (1646 II 10) S. 459. 18f.] , daß auß dem Römischen Reich ein mördergruben gemacht werde, findet sich ebenso in allen Überlieferungen, die Wendung intention in mente retenta (kurkölnisches Votum) in den sonst formulierungsmäßig voneinander abweichenden Kurmainz und Kurköln (Nr. [56, 1645 XI 4 S. 389. 28] ).
. Bei wichtigen Sonderproblemen werden die Gesandtschaftsberichte vergleichend herangezogen werden können. Auslassungen oder perspektivische Verzeichnungen und Übertreibungen, etwa in Fragen der Religion oder der französischen und schwedischen Satisfaktion, sind teilweise als Produkte der politischen Tendenz eines Protokolls zu erkennen. Ver-besserungen des eigenen Votums von der „feilenden“ Hand des votierenden Gesandten können, sofern in den anderen Protokollen sachlich nicht enthalten, als nachträgliche absichtliche Zusätze oder Streichungen angesehen werden. Schließlich ist eine sozu-sagen „vertikale“ Kontrolle des Gesagten im Fortlauf des Textes möglich, weil das Conclusum auf die Voten, die Voten auf die vorherigen Voten und auf die Propo-sition stets Bezug nehmen; deshalb ist gerade bei Konferenzen, die zäh verlaufen und der Sache nach auf der Stelle zu treten scheinen, Vorsicht gegenüber starker Kürzung des Textes geboten. Der Varianten-Apparat ist daher umfangreich.
2. Die Varianten sind auch deshalb ausführlich berücksichtigt, weil sie der edierten Quellengattung eigentümlich sind. Sie rühren meist aus technischen Gründen statt aus bewußter Verfälschung her: Hör- und Abschreibfehler, nicht wortgetreue und unvoll-ständige Wiedergabe der Vorträge sind ebenso typisch wie das an sich löbliche Streben der Protokollanten nach Abwechslung im Ausdruck und stilistischer Perfektion, das dazu bewog, den Boden einer streng neutralen Nachschrift beim Übergang vom Rapular zum Konzept zu verlassen: Nur Kurtrier und Kursachsen behalten für ihre ersten protokollierten Sitzungen den konzisen Stil einer stenogrammartigen Mit-schrift bei. Bewußte Abänderungen waren wohl am unauffälligsten durch Auslassungen zu erreichen

Vgl. DLöben II fol. 114 über die kurmainzische Wiedergabe des bayerischen Votums über die pfälzische Frage (wohl 1646 II 14 Nr. [68 S. 477–479] ): Obwohl es im kurbrandenburgischen Protokoll genau aufgezeichnet ist, will sich doch der rechte tenor in des reichsdirectorii, dem Churmeintzischen protocollo, nicht befinden, worauß abzunehmmen, daß die Bayerische mitt Meintz dergestalt correspondiren müssen, daß sie daßjenige, waß ihnen beliebedt, ins protocollum bringen, waß ihnen aber mißfälledt, herausserlassen, welches dem reichsdirectorio ubel anstehedt.
; diese werden deshalb im einzelnen angemerkt, es sei denn ein Protokoll ist überhaupt wesentlich summarischer abgefaßt. Manche Protokollisten waren auch in bestimmten Angelegenheiten, besonders solchen des eigenen Standes, hellhöriger als andere und trafen unbeabsichtigt aus solcher Disposition ihre Auswahl. In den genannten Unvollkommenheiten liegt ein wesentliches Problem der Quellenkunde: Mündliche, allerdings bei vorheriger Fixierung der Voten schriftlich abgestützte Verlautbarungen sind durch die „Auffassung“ anderer Personen als die des Vor-tragenden „hindurchgegangen“, ehe sie zum Protokoll und damit zum „Überrest“ werden.

Vgl. A. v. Brandt , Werkzeug des Historikers S. 61, 52f. „Tradition“ werden die Protokolle aber nicht, weil die fremde „Auffassung“ auf einen Gegenwartszweck bezogen und geschäftlicher Natur ist.
Die Unschärfe der Protokolle ist zwangsläufig Begleiterscheinung ihrer Ent-stehung, die von mindestens zwei Personen abhängt, welche mit gewisser Eigenständig-keit arbeiten. Anders als bei der diktierten Niederschrift eines Briefs oder Beratungs-ergebnisses (Diktatur der Conclusen) oder als bei der schriftlichen Weitergabe eigener Reden kommt beim Protokoll die „fremde“ Auffassung der – einander kontrol-lierenden – Protokollanten hinzu: diese führt (selbst noch bei Verwendung des Steno-gramms) zu Varianten. Im strengen Sinne sind bloße Nachträge des eigenen Votums, durch die zuständigen Gesandten vorgenommen, so wenig Protokolle wie Ciceros Reden. Ihre größere Ausführlichkeit im Vergleich zu den Fremdvoten ihrer Pro-venienz kann wirklichkeitsfremd sein; da es umgekehrt vorkommt, daß in einer fremden Provenienz das eigene Votum besser wiedergegeben wird als im eigenen Pro-tokoll

So das kurkölnische Votum von 1645 IX 18 besser in Kurmainz Rk als in Kurköln zA, spA (Nr. [43 S. 277–281] ), ebenso 1645 IX 28 Nr. [49 S. 338] .
, wäre das „Idealprotokoll“, bestehend aus der Selbstprotokollierung der eigenen Verlautbarungen, gerade kein ideales Protokoll.
3. Ein vollständiger Querschnitt durch alle Protokoll-Provenienzen ist auch deshalb für jede Sitzung notwendig, weil statt der Korrespondenzen aller am Friedenskongreß beteiligten Reichsstände nur ihre Protokolle zur Edition in den APW vorgesehen sind

Abgesehen von einigen wichtigen Diarien. Vgl. Jahrbuch der Historischen Forschung 1974 S. 59.
. Diese Zeugnisse müssen möglichst exakt wiedergegeben werden, weil sie das Handeln der Reichsstände nur auf der offiziellen Ebene ihrer zuständigen Korpo-rationen komprimiert fassen. Die verschiedenen Auffassungen des Geschehens, die der Vergleich der Protokolle verschiedener Herkunft zutage bringt, gehören zu diesem Geschehen selbst. Da die einzelnen Mitglieder des Kurkollegs gleichberechtigt Proto-kolle führten, verdient auch jede ihrer Auffassungsweisen gleiche Beachtung.
4. Die Varianten sind für die Verfassungsgeschichte der Reichsversammlungen be-deutsam. Aufzeichnung oder Nicht-Aufzeichnung von Kurialien oder Kollegial-rechten, etwa des kursächsischen Umfragerechts, aber auch der gesamten rechtlichen Prozedur der Sitzungen, wirkte sich langfristig auf die Rechte und auf die Stellung einzelner Reichsstände aus, ebenso wie die mehr oder weniger ausführliche Behandlung ihrer territorialen Angelegenheiten in den Reichsräten. Die Aufnahme eines An-spruchs oder Protests in eines der Protokolle lag in ihrer rechtlichen Bedeutung zwar unter vertraglich-urkundlicher Verbriefung, aber über unverbindlicher Erinnerung, die nur mündlich geltend zu machen war.

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