Acta Pacis Westphalicae III C 1,1 : Diarium Chigi, 1639 - 1651, 1. Teil: Text / Konrad Repgen
3. Einrichtung der Edition
Editionen bewahren Überlieferung, bewahren aber läßt sich nur, wenn der Kreis derer, für die bewahrt werden soll, hinreichend bestimmt ist. Für die Edition des Chigi-Tagebuches in den APW ist nicht allein und nicht einmal vornehmlich an Benutzer gedacht, die sich mit dem Wirken und Leben Fabio Chigis befassen, sondern mehr an diejenigen, die in dieser (für sehr unterschiedliche Fragestellun-gen) zentralen Quelle nachschlagen wollen, um zuverlässige Daten und Fakten bei der Erforschung geschichtlicher Probleme zu gewinnen, mit denen Chigi in den Jahren seiner Kölner Nuntiatur in Beziehung getreten ist. Dem entspricht die Einrichtung des Textes, der Kommentierung und des Registers. Textgestaltung Das Chigi-Tagebuch ist die erste größere Quelle in italienischer Sprache im Rahmen der APW. Als 1965/66 das Manuskript dafür geschrieben und in den siebziger Jahren mit der Herstellung des Drucks begonnen wurde, lagen die 1980 publizierten »Empfehlungen zur Edition frühneuzeitlicher Texte« noch nicht vor . Dankenswerterweise enthalten diese auch – im Unterschied zu den älteren Schultzeschen Richtlinien – Empfehlungen für Texte in italienischer Sprache. Sie sind im großen und ganzen von den hier angewandten Regeln nicht sehr unterschieden, obgleich es im einzelnen Abweichungen gibt. Ausgangspunkt meiner Überlegungen für die Textgestaltung war der von Schultze für Texte in deutscher Sprache aufgestellte Grundsatz, daß »insbeson-dere bei eigenhändigen Schriften hervorragender Persönlichkeiten« eine »buch-stabengetreue Wiedergabe« gerechtfertigt sei . Dieser Grundsatz schien auf diesen Fall anwendbar und seine Beachtung angebracht; denn Fabio Chigi, der künftige Papst Alexander VII, gehört doch wohl zur Gruppe der »hervorragen-den« Persönlichkeiten. Andererseits ließ sich bei der Fülle der Abkürzungen im Chigi-Tagebuch und bei den nicht mehr eindeutig kurrentschriftlichen Eintra-gungen der abstrakte Grundsatz der »Buchstabentreue« nicht verwirklichen. Der Editor mußte also in den Textbefund mehr normalisierend eingreifen, als »eigentlich« erwünscht war. Diese Normalisierung konnte jedoch – entgegen Schultzes Richtlinien – nicht immer auch auf die Interpunktion angewendet werden. Chigi hat nämlich oft, aber nicht immer, am Zeilenende und nach einer Abkürzung das Interpunk-tionszeichen, das man erwarten sollte, weggelassen. Würde der Editor hier nach seinem Textverständnis eingreifen und sinngemäße Interpunktionen einfügen, so müßte er dem Benutzer in manchen Fällen seine eigene Interpretation aufzwin-gen – in manchen, nicht in allen. Wenn Chigi zum 23. Dezember 1644 festhält, daß zuerst Contarini, dann Volmar bei ihm gewesen und daß Contarini um 12 Uhr gegangen sei, während er (Chigi) um 2 Uhr bei Contarini angekommen sei (vien da me il sig. Volmar, e | prima, e poi il sig. ambasciatore di Venetia, si parte alle 12 | alle 2 sono da S. E.), so ersetzt das Zeilenende hinter 12 das fehlende Komma; der Sinn ist jedoch eindeutig so, daß die erste Zeitbestimmung (12 Uhr) sich auf den Weggang des Venezianers, die zweite (2 Uhr) auf den Weggang des Nuntius bezieht. In diesem Falle könnte der Editor also die Interpunktion ohne sinnverändernde Interpretation vornehmen. Es gibt aber andere Fälle, in denen dies nicht möglich ist. Nach Chigis Tagebuch ist der Urkundenaustausch der Vollmachten zwischen Kaiserlichen und Franzosen am 16. Februar 1645 so vor sich gegangen, daß sein Mitarbeiter Hodegius um 8 Uhr die französische Vollmacht den Kaiserlichen brachte und dann per don Severo la Cesarea a’ Francesi alle 10 il | Prefontene riporta la medesima a me. Setzte der Editor hinter 10 ein Komma, was die wahrscheinlichere, aber nicht die einzig mögliche Interpretation wäre – denn Chigi könnte auch notiert haben, daß Hodegius und Severus gleichzeitig um 8 Uhr zu beiden Delegationen aufgebrochen seien und Préfontaines den kaiserlichen Text um 10 Uhr zurückge-bracht hätte –, so würde dem Benutzer ein Tatbestand als sicher vermittelt, für den eine Sicherheit nicht zu gewinnen ist, jedenfalls nicht aus diesem Text. Einen dritten Fall bietet das Tagebuch zum 12. Januar 1646: alle 11 vien da me l’ambasciatore di Venetia | e poi i Cesarei con la plenipotenza rifatta del conte Trautmanstorff alle 3 | vo dal sig. ambasicatore di Venetia usw. Haben die Kaiserlichen um 3 Uhr die erneuerte Vollmacht Trauttmansdorffs gebracht, oder ist Chigi um 3 Uhr zu Contarini gegangen? Beide Interpretationen wären möglich, weil der Name Trauttmansdorffs abgekürzt geschrieben worden ist und die Zeitangabe am Zeilenende steht. Aus diesen Umständen ergibt sich, daß der Editor die wegen der Interpunktions-eigenart Chigis unvermeidliche Uneindeutigkeit des Textes nicht durch Zufü-gung eigener Interpunktion in Eindeutigkeit verwandeln darf – es sei denn, man bezeichnete jede vom Editor vorgenommene Interpunktion durch irgendeine Form von Klammer, was aber ein unannehmbar kompliziertes Schriftbild ergäbe; außerdem könnte der Wegfall einer im Text Chigis noch vorhandenen Interpunktion, die sich durch Auflösung der Abkürzung ergibt, auf diese Weise doch nicht bezeichnet werden. Ein drittes Problem bietet schließlich die von Chigi ganz unterschiedlich gehandhabte Groß- und Kleinschreibung, wobei Groß- und Kleinbuchstaben sich bei ihm nicht immer eindeutig unterscheiden. Getreue Wiedergabe des Vorgefundenen würde hier eine Genauigkeit vortäuschen, die dem Text nicht eignet und die daher auch nicht vom Editor erstrebt werden soll. Schließlich ergibt sich, daß Chigi oft vorkommende Namen nicht immer gleich schreibt: Osnambrug und Osnamburg stehen nebeneinander. Da es das Ziel der Edition ist, einen Text zu bieten, der sich nah am Original orientieren, aber »lesbar« sein und keine sinnverändernde Interpretation des Editors enthalten soll, ergaben sich die editionstechnischen Regeln, die oben S. XVIIf. zusammengestellt sind. Es ist an dieser Stelle jedoch anzumerken, daß ein Hinweis auf tatsächliche, aber befremdliche Lesart sparsam erfolgt ist. Der Benutzer muß davon ausgehen, daß der gedruckte Text einer Vorlage entspricht, die – ihrem Charakter gemäß – viele Schreibfehler enthält. Kommentierung Es sind oben bereits grundsätzliche Gesichtspunkte für die Kommentierung des Chigi-Tagebuchs herausgestellt worden. Daher kann ich mich hier kurz fassen. Der Kommentar rechnet mit einem Benutzer, der das Chigi-Tagebuch punktu-ell, für bestimmte Detailfragen, heranziehen will und geht davon aus, daß dieser Benutzer, soweit er nicht an der Chigi-Biographie direkt interessiert ist, Information zu bestimmten Daten oder Personen sucht. Einem solchen Besucher soll der Kommentar schnell und zuverlässig weiterhelfen. Wie ich dabei vorgehe, zeigt der im folgenden schon einmal vorweg abgedruckte Kommentar zum 9. und 10. Dezember 1639. Er soll so aussehen: 1639 XII 9 Fra Giovanni] Giovanni Battista Bichi JO. P. Orione] P. Johannes Horion SJ. dottor Snellio] vermutlich Lizenziat Gottfried Schnell. Felice Lugo] segretario delle cose domestiche des Kardinallegaten Martio Ginetti (vgl. L. Queba e Tuna, S. 222; F. J. von Bianco, Anhang, S. 110). S. Em.] Kardinallegat Martio Ginetti. arciduca d’Inspruc] vermutlich Erzherzog Ferdinand Karl von Tirol. sig. Guido] Guido del Pelagio. 1639 XII 10 arbori de principi] die hier gemeinten Fürstenstammbäume waren nicht zu ermitteln. sig. Macchiavelli] wahrscheinlich Benedetto Macchiavelli. don Micalagnolo] Michelangelo Bonci. sig. Marc Antonio] Marco Antonio Croce aus Tivoli, Sohn der Albania Croce geb. Ginetti, maestro di camera seines Onkels, des Kardinallegaten Ginetti (vgl. L. Queba e Tuna, S. 222; bei F. J. von Bianco, Anhang, S. 110 irrig als de Goa bezeichnet und aulae praefectus genannt). il P. Cappuccino] nicht zu ermitteln. pel Fuldese] ein ehemaliger Alumne des wegen der Kriegszeit nach Köln verlegten Fuldischen Kollegs, frater Daniel von Amöneburg, wollte Kapuzi-ner werden. Dazu bedurfte er einer Dispens von der früher eingegangenen eidlichen Verpflichtung, die Ausbildung im Fuldischen Kolleg zu Ende zu absolvieren. Nachdem diese Dispens unter der Bedingung gewährt worden war, die Ausbildungskosten zurückzuerstatten, die ca. 150 Reichstaler ausmachen sollten, bedurfte er zum endgültigen Eintritt in den Kapuziner-orden einer Dispens von dieser Rückzahlungsverpflichtung. Diese ist schließlich am 4. Januar 1641 mit päpstlicher Zustimmung gewährt worden (vgl. H. Tüchle, Acta S. 472, 478, 490 sowie A. Jacobs S. 30, FN 93). An dem Kommentar zu diesen beiden Tagen lassen sich insgesamt fünf verschiedene Kommentierungsprobleme und die dafür hier gefundene Lösung erläutern. 1. Fall: Das DCh enthält allein den Vornamen einer Person. Hier ist das der Fall für fra Giovanni, sig. Guido, sig. Marc Antonio und don Micalagnolo. In diesen Fällen fügt der Kommentar regelmäßig den Familiennamen, falls bekannt, hinzu. Ist die Person bereits früher im DCh aufgetreten und daher zum Datum der erstmaligen Erwähnung biographisch erläutert worden (was hier für Giovanni Bichi und Guido del Pelagio zutrifft), so läßt diese Erläuterung sich über das Register, wo sie ausgewiesen ist, unschwer finden. Taucht der Vorname zum ersten Male auf, so ist eine kurze biographische Erläuterung zugefügt. Läßt sich der Familienname nicht ermitteln, so wird dies beim erstmaligen Auftreten des Vornamens vermerkt; ein solcher Vorname erscheint im Register mit dem fiktiven Familiennamen XYZ. 2. Fall: Das DCh enthält allein den Familiennamen einer Person, es gibt aber mehrere Personen des gleichen Familiennamens im Dch. Hier ist das der Fall für Snellio und Macchiavelli . In diesen Fällen wird der zugehörige Vorname (mit Angabe des Plausibilitäts-grads der Ergänzung) vom Kommentar regelmäßig hinzugefügt. Die weiteren biographischen Daten sind wie im Fall 1 durch das Register zu erschließen. Läßt sich der Vorname nicht ermitteln, so wird dies beim erstmaligen Auftreten des Familiennamens vermerkt; ein solcher Familienname erscheint im Register mit dem fiktiven Vornamen ZYX. 3. Fall: Das DCh enthält allein den Titel einer Person. Hier ist das der Fall bei S. Em. In diesen Fällen fügt der Kommentar regelmäßig Familiennamen, Vornamen und amtliche Stellung hinzu. Die biographischen Daten, soweit bereits früher erläutert, sind wie im Fall 1 durch das Register zu erschließen. Von dieser Regel wird für das DCh vom 19. März 1644 bis 12. Dezember 1649 abgegangen. In dieser Zeit des Friedenskongresses werden einige ständig wieder-kehrende Amtstitel (wie: sig. ambasciatore di Venetia, mons. vescovo di Osnambrug, i plenipotentiarii Cesarei usw.) durch den einfachen Namen (Contarini, Wartenberg, Nassau/Volmar usw.) ersetzt, um den Kommentar nicht durch ständiges Wiederholen des gleichen zu überlasten. 4. Fall: Das DCh notiert ein Stichwort über ein Amtsgeschäft, mit dem Chigi zu tun hatte. Hier ist das der Fall bei dem Kapuzinernovizen Daniel von Amöneburg, der vorher das von Jesuiten geleitete Fuldische Kolleg in Köln besucht hatte. In diesen Fällen beschreibt der Kommentar unter Heranziehung der Literatur und der ungedruckten Chigi-Akten den Vorgang kurz – soweit möglich. Auf den gleichen Vorgang sich beziehende spätere Erwähnungen im DCh werden vom Kommentar durch Rückverweisung auf die Erläuterung an der früheren Stelle erklärt. In diesem Falle trifft das zu für DCh 1640 II 4, 11, III 1, 30, IV 16. 5. Fall: Das Tagebuch bringt einen Namen in einer anderen Schreibweise als der Kommentar. Hier ist das der Fall bei P. Horion SJ (= Orione). In diesem Falle ( Snellio = Schnell – Fall 2 liegt ähnlich) bringt der Kommentar den Namen in der korrekten Schreibweise und fügt den Vornamen hinzu. Die biographischen Daten sind wie im Fall 1 durch das Register zu erschließen. Das Register enthält auch ein vollständiges Verzeichnis aller unkorrekt geschrie-benen Namen mit Verweis auf die korrekte Schreibung. ★ ★ ★ Auf diese Weise, hoffe ich, kann das Chigi-Tagebuch ein nützliches Nachschlage-werk werden – nicht nur für die Geschichte des Westfälischen Friedens, sondern überhaupt für das letzte Jahrzehnt des Dreißigjährigen Krieges. Auf einen Umstand aber muß noch aufmerksam gemacht werden: das Problem einer Plausibilitätsskala. Ohne dies im einzelnen zu begründen (weil eine solche Begründung ins Uferlose führen würde), gibt der Kommentar an, daß der licentiato Snellio, der wegen Prozessen ( cause) beim Nuntius war, »vermutlich« mit Dr. Gottfried Schnell zu identifizieren ist, der sig. Macchiavelli, dem Chigi die Fürstenstammbäume zurückschickt, aber »wahrscheinlich« Benedetto Macchiavelli gewesen sei – Bruder des Prälaten Francesco Maria Macchiavelli und in dessen Gefolge in Köln. Die Bezeichnung »wahrscheinlich« und »vermutlich« ist bewußt gewählt und wird im Kommentar in standardisierter Form verwendet. Dieser geht davon aus, daß sich die uneingeschränkt indikativischen Aussagen auf (durch Quellennachweis oder Logik) ausreichend beglaubigte Tatsachen stützen und beziehen. Hingegen ist ein weiter Bereich des zu Kommentierenden nur mit unterschiedlich plausiblen Hypothesen erklärbar. Hier benutze ich in standardi- sierter Form eine Skala, die vom relativen Maximum zum relativen Minimum hypothetischer Glaubwürdigkeit reicht und so aussieht:- – sicherlich
- – sehr wahrscheinlich
- – wahrscheinlich
- – vermutlich.
- – möglich.