Acta Pacis Westphalicae III C 1,1 : Diarium Chigi, 1639 - 1651, 1. Teil: Text / Konrad Repgen
2. Zum Quellenwert des Chigi-Tagebuchs
Unsere Edition umfaßt Eintragungen vom 18. Mai 1639 bis zum 30. November 1651, also für 4215 Tage. Geht man davon aus, daß Chigi sich im Durchschnitt pro Tag über ungefähr sechs verschiedene Punkte Notizen ins Diarium einge-tragen haben dürfte, so enthält sein Tagebuch – formal betrachtet – etwa 25 000 Einzelinformationen. Diese Nachrichtenmasse hat ihren Wert als historische Quelle, abgesehen vom Biographischen, sowohl im Bereich der politischen Geschichte wie auch der Kirchengeschichte, der Sozial- und der Kulturge-schichte.
Die Bedeutung des Tagebuchs für die Erforschung der politischen Geschichte liegt vor allem in den fünfeinhalb Jahren, die Chigi als außerordentlicher Nuntius für die Friedensverhandlungen in Münster zugebracht hat, also der Zeit vom 19. März 1644 bis 13. Dezember 1649. Für diesen Zeitraum hält das Tagebuch eine riesige Fülle präziser Nachrichten über den äußeren Ablauf des Geschehens bereit. Es ermöglicht damit, sehr genau festzustellen, in der Regel sogar mit Stunden- oder wenigstens Tageszeitangabe, wann welche Verhandlun-gen oder Gespräche wo und mit welchem Teilnehmerkreis in Münster stattge-funden haben. Das Chigi-Tagebuch bietet also Material für die genaue Rekon-struktion des äußeren Ablaufs der offiziellen Verhandlungen der katholischen Mächte untereinander, also jenes Teils des politischen Geschehens, in den der Nuntius als Friedensvermittler – ähnlich wie heute ein Notar bei zivilrechtli-chen Vertragsverhandlungen oder der Präsident eines Parlaments bei interfrak-tionellen Verständigungen – einbezogen war. In dieser Hinsicht, was die korrekten und konkreten Daten betrifft, dürfte das Chigi-Tagebuch von keiner anderen Quelle übertroffen werden, auch nicht von den voluminösen Diarien, die der kaiserliche Sekundargesandte Isaak Volmar und der kurkölnische Delegationsleiter Franz Wilhelm von Wartenberg, Fürstbischof von Osnabrück, geführt haben
Sie werden publiziert als APW III C 2
(Diarium Volmar) und APW III C 3
(Diarium Wartenberg).
. Deren Diarien – ganz dicke Folianten – sind eine Kombination
[p. XXXI]
[scan. 31]
von Hauptjournal, das den schriftlichen Geschäftsverkehr der Delegation festhält, mit Protokollbuch. In diesen Niederschriften wird der Gang der Verhandlungen mit Rede und Gegenrede, Behauptung und Widerlegung, Argu-mentation und Gegenargumentation in ermüdender Weitschweifigkeit festge-halten.
Ein derartiges »Protokollbuch«, wenn auch erheblich knapper als im Diarium Volmar oder Wartenberg formuliert, hat auch Chigi anfangs geführt. Es ist im Codex
Chig.
lat.
a I 42 erhalten und 1943 in Rom publiziert worden
G.
Incisa
della
Rocchetta, Nunziatura S. 91–335, aufgrund der 1912/13 für das Österreichi-sche Historische Institut gefertigten Abschriften. Der Text ist brauchbar, hat jedoch keinen textkritischem Apparat und keine textkritische Einführung, aber einen reichen biographischen Anmerkungsapparat.
. Dieses Niederschriften-Buch setzt am 19. März 1644 ein und enthält bis zum 27. Februar 1645 ziemlich regelmäßig Eintragungen, danach, vom 3. März bis 29. Mai 1645, noch sporadisch. Wie an anderer Stelle schon genauer dargelegt worden ist
Vgl. K.
Repgen,
Wartenberg S. 226ff., auch zum folgenden.
, bieten Chigis Niederschriften, die in etwa dem
extractus proto-colli der zeitgenössischen deutschen Akten ähneln, etwas ganz anderes als das Tagebuch; denn sie berichten nicht allein über die Tatsache, sondern auch über den Inhalt von Verhandlungen und führen insofern viel weiter als die dürftigen Tagebuchnotizen. Aber auch für den Zeitraum, in dem sie vorliegen, ersetzen sie das Tagebuch keineswegs. Es hat sich nämlich gezeigt, daß Chigi nicht über jede Begegnung, die er hatte, und nicht über jede Verhandlung, die er führte, eine Niederschrift angefertigt hat. Zwischen dem 27. November 1644 und dem 19. Februar 1645, also innerhalb eines Zeitraumes, in dem die Niederschriftenserie dicht ist
Niederschriften Chigis in
Chig.
lat.
a I 42 liegen vor für folgende Daten: 1644 II 19, 20, 21, 22, 23, 24, 27, 28, 29, 31, IV 2, 6, 7, 9, 11, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 24, 25, V 6, 7, 9, 15, 16, 17, 18, 20, 21, 23, 24, 27, VI 2, 3, 7, 8, 10, 11, 12, 14, 20, 21, 22, 26, 27, 28, VII 1, 5, 8, 9, 11, 16, 17, 22, 23, 24, VIII 5, 14, 15, 19, 22, 26, 28, IX 12, 13, 14, 20, 21, 25, 27, 28, 29, 30, X 1, 2, 3, 4, 5, 7, 10, 11, 13, 14, 16, 17, 18, 19, 20, 22, 25, 26, 28, 29, 30, 31, XI 1, 2, 3, 4, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 15, 16, 18, 19, 20, 21, 23, 24, 27, 29, XII 4, 5, 6, 7, 9, 11, 13, 17, 18, 19, 20, 23, 24, 25, 27; 1645 I 1, 2, 4, 5, 6, 7, 8, 14, 15, 16, 17, 19, 23, 24, 26, 27, 28, 29, II 1, 3, 4, 5, 7, 13, 14, 15, 18, 21, 22, 24, 25, 26, 27, III 3, 26, IV 4, 12, 25, V 13, 28, 29. Diese Niederschriften werden in
APW III C 1,2 berücksichtigt. Sie in
APW III C 1,1 als Text zu drucken, habe ich mich nicht entschließen können, um die Einheitlichkeit des Tagebuchs nicht zu zerstören; sie hier im Anhang zu drucken, wäre für den Benutzer lästiger, als im Kommentarband.
, traf der Nuntius mit dem Osnabrücker Fürstbischof Wartenberg persönlich neunmal zusammen. Darüber hat Chigi in 5 Fällen eine Nieder-schrift angefertigt, während das Wartenberg-Diarium immerhin zu 8 Begegnun-gen Niederschriften Wartenbergs enthält. Wenigstens die Tatsache des neunten Zusammentreffens der beiden ist im Chigi-Tagebuch hingegen festgehalten worden, obgleich es sich nur um eine zufällige Begegnung nach dem Spaziergang handelte
Vgl.
DCh 1644 XII 12. Die Daten, an denen Chigi und Wartenberg sich trafen, sind: 1644 XI 27, 30, XII 12, 27; 1645 I 1, 24, II 5, 10, 19. Chigi-Niederschriften liegen vor für 1644 XI 27, XII 27; 1645 I 1, 24, II 5. Nachweisungen in
K.
Repgen, Wartenberg S. 250.
. Wer das politische Verhältnis Chigi-Wartenberg in den Jahren
[p. XXXII]
[scan. 32]
1644/45 untersuchen will, tut also gut daran, vom Chigi-Tagebuch auszugehen, um das Datengerüst zu gewinnen, das aller weiteren Forschung zugrunde gelegt werden kann.
Das Chigi-Tagebuch ist im übrigen selbst einer so genauen und umfangreichen Quelle wie dem Wartenberg-Diarium an Präzision und Vollständigkeit noch mehr überlegen, als die eben genannten Zahlen erkennen lassen. In den Monaten Januar bis April 1646 ist Wartenberg mit dem Nuntius nach Ausweis seines eigenen Diariums achtmal, nach den Notizen des Chigi-Tagebuchs aber zehn-mal zusammengetroffen
Direkte Begegnungen: 1646 I 14, II 17, III 12, 27, IV 4, (8), 9, 10, (19), 29 [die runde Klammer bezeichnet hier, daß das Wartenberg-Diarium keine Überlieferung davon bietet]. Nachweisungen ergeben sich demnächst aus
APW III C 3,2
[ S. 1260–1262.]
. Noch ungünstiger für die kurkölnische Quelle ist das Ergebnis, wenn man nach den indirekten Kontakten der beiden (durch Mitar-beiter, die Aufträge überbrachten) fragt: das Chigi-Tagebuch hält 13 derartige Fälle in den ersten vier Monaten 1646 fest, das Diarium Wartenbergs nur
7
Indirekte Kontakte: 1646 I 7, 11, 12, 17, (19), II (11), 22, 19/20, (24), (25), IV (10), 28, (30) [Bedeutung der runden Klammer wie in FN 73]. Der indirekte Kontakt am 19. Februar (im Diarium Wartenberg unter II 20 festgehalten) war für Chigi sehr wichtig; denn Wartenberg informierte ihn über die religionsrechtspolitische Konzessionsbereitschaft Trauttmansdorffs (dazu vgl.
A.
Knoch S. 85f., 269 FN 82.)
. Beide Kontaktnahmen zusammengenommen, die direkten und die indirekten, ergibt sich ein Verhältnis von 23 zu 15 zwischen Chigi-Tagebuch und Warten-berg-Diarium. Diese Zahlen allein zeigen schon deutlich, wie nützlich und wichtig das Tagebuch Chigis für die künftige Erforschung der Geschichte des Westfälischen Friedens ist, obgleich die päpstliche Politik auf diesen bekanntlich wenig Einfluß zu nehmen vermocht hat.
Daß der Wert des Chigi-Tagebuchs für die Kirchengeschichtsforschung einzigar-tig ist, bedarf keiner langen Begründung. Wie keine andere Quelle gewährt es einen neuen und überaus nüchternen Einblick in den Alltag des Nuntius, der in seinen Kölner Jahren (1639–1644) und danach wieder in Aachen (1650–1651) mit allgemeiner Politik im engeren Sinne fast gar nicht, aber pausenlos, jedenfalls in Köln, mit Kirchenverwaltung beschäftigt war. Dieser Verwaltungs-alltag
Dazu jetzt W.
Reinhard,
Verwaltung.
steht in einem bemerkenswerten Kontrast zu dem Bild, das man von Chigis innerkirchlicher Tätigkeit gewinnen müßte, wenn man allein seine Korrespondenz mit den römischen Behörden zugrunde legte. Trotz ihres unbe-streitbar hohen Quellenwertes
Vgl.
Nuntiaturforschung,
passim, besonders G.
Lutz,
Glaubwürdigkeit.
beleuchten Nuntiarberichte eben nur die sicht-bare Spitze eines Eisbergs; das meiste, was der Nuntius zu tun hatte, konnte er an Ort und Stelle erledigen, ohne Rom zu informieren oder römische Weisungen einzuholen. Das oft zu einem Topos stilisierte Wort vom nachtridentinischen »Zentralismus« des Papsttums erklärt die kirchliche Wirklichkeit dieser Zeit offenbar sehr unvollkommen; wenn es ein Zentralismus war, so war es – allein schon wegen der Verkehrsverhältnisse und Kommunikationsbedingungen – ein sehr dezentralisierter Zentralismus.
[p. XXXIII]
[scan. 33]
Darüber hinaus vermittelt das Chigi-Tagebuch zwei weitere kirchengeschichtli-che Einsichten von allgemeiner Bedeutung, denen nachgegangen werden sollte. Das eine ist der auffällige Unterschied des Umfangs, in dem Chigi während der Kölner Jahre einerseits und der Münsteraner Jahre andererseits durch die innerkirchliche Tätigkeit beansprucht worden ist. Solange der Nuntius sich in der rheinischen Metropole aufhielt, wurde er nahezu täglich in irgendeiner Form kirchenverwaltungsmäßig
Unabhängig von seiner Tätigkeit als kirchlicher Richter, wenngleich sich die richterliche und die verwaltungsmäßige Tätigkeit nicht streng scheiden lassen. Dazu vgl.
K.
Repgen, Finanzen S. 269, FN 165 sowie die Fragmente Kölner Nuntiatur-Prozeßakten, die in
NAC 152, 153 und
174 erhalten sind.
tätig. Sobald er in Münster angekommen war, wurde das anders. Seine Aktivitäten konzentrierten sich nunmehr ganz auf die große Politik; in seinem täglichen Tun trat die Kirchenverwaltung deutlich in eine zweite oder sogar dritte Linie zurück, obgleich Chigis Kompetenzen als Kölner Nuntius von der zusätzlichen Beauftragung mit der außerordentlichen Nuntiatur nicht berührt wurden und er auch keinen mehr oder minder formell bevollmächtigten Vertreter in Köln zurückgelassen hatte. Gewiß wurden die wichtigen, »großen« innerkirchlichen Verwaltungsfälle auch in Münster an den Kölner Nuntius herangetragen (zum Beispiel die Informationsprozesse für Bischöfe und Äbte); offenkundig aber war das Ausmaß, in dem er im »normalen« kirchlichen Alltag sein Gewicht geltend machen konnte, in erheblicher Weise an seine persönliche Präsenz in Köln geknüpft. Der Umfang seines schriftlichen Verwaltungshandelns in Münster ist nicht erheblich gegenüber der Kölner Zeit gemindert; aber die Möglichkeit persönlicher Einflußnahme durch das persönli-che Gespräch mit dem Ordensoberen X oder dem Stiftsherrn Y war offenbar drastisch reduziert.
Dieses Phänomen ist kaum damit zu erklären, daß die zusätzlichen Belastungen mit den neuen politischen Amtspflichten eines außerordentlichen Nuntius es Chigi unmöglich gemacht hätten, sich ähnlich intensiv wie bisher um die innerkirchlichen Dinge zu kümmern; denn ab 1649, und besonders seit der Übersiedlung nach Aachen, verfügte Chigi nach dem überzeugenden Ausweis seines Tagebuchs über sehr viel Zeit. Große Politik ließ sich nach der Abreise der Kongreßgesandten in Münster nicht mehr machen; Aachen war dafür ein ähnlich schlechter Schauplatz. Das Tagebuch beweist deutlich: Chigi wartete auf die Abberufung und vertrieb sich die Zeit
Ugolino an Chigi, Rom 1649 VIII 21 (eig., chiffriert:
Chig.
lat.
A III 66 fol. 438/439´) hatte von Gerüchten aus nicht schlechter Quelle berichtet, wonach Chigi an die Spitze des Staatssekretariats kommen solle, doch wisse man noch nicht, was dann aus Kardinal Panziroli werden solle. Nach dessen Tod, am 3. September 1651, berichtete ders. an dens., Rom 1651 IX 9: es gehe allgemein das Gerücht, daß Chigi Staatssekretär werde; ders. an dens., Rom 1651 IX 16: der interimistische Leiter des Staatssekretariats, Kardinal Spada, habe Ugolino rufen und durchblicken lassen, daß Chigi Staatssekretär werde (eig.,
ebd. fol. 578/579´ und 580/580´).
. Gewiß hat der Nuntius auch in Aachen eine innerkirchliche Wirksamkeit ausgeübt, wie seine Aktivitäten bei
[p. XXXIV]
[scan. 34]
den Auseinandersetzungen im Augustinereremitenorden (Frühjahr 1650
Darüber viele Akten in NAC 180.
) und seine Reise zu der längst überfälligen Koadjutorwahl (Sommer 1650) nach Trier beweisen. Auch blieb Lüttich weiterhin ein zentraler Aufgabenbereich für Chigi als Kölner Nuntius. Aber wenn er am 10. Januar 1651 in seinem Tagebuch festhält:
mi trattengo a passeggiare al trucco, so ist das für seine Situation in Aachen doch sehr bezeichnend. In Köln (und auch in Münster bis zum Friedensschluß) hatte er keine Zeit zum Truccospielen. Was der Nuntius täglich tut und nicht tut, ist offenbar viel stärker von seinem Residenzort abhängig, als man meinen möchte, wenn man nur den schriftlichen Überrest der damaligen Verwaltungstätigkeit berücksichtigen wollte, um zutreffende Rückschlüsse auf die tatsächliche Funktion eines Nuntius zu ziehen. Kölns Bedeutung als katholi-sches Zentrum zur Zeit Chigis ist kaum zu überschätzen. Das kirchliche Leben gravitiert weniger zur jeweiligen Residenz des Nuntius als vielmehr zur rheinischen Metropole.
Mit dieser Feststellung ist auch der zweite Punkt berührt, auf den das Chigi-Tagebuch eindringlich hinweist: es sind nicht die Diözesanbischöfe die eigentlichen Verhandlungs- und Ansprechpartner des Nuntius. Mit dem Erzbi-schof von Köln, der jedoch als Kurfürst nicht in der Stadt residieren konnte, ist Chigi zwar mindestens zehnmal zusammengetroffen
Vgl.
DCh
1641 XII 18; 1642 II 4, 10, III 28, VIII 10, IX 11; 1643 VI 8, 12, VIII 5, IX 3; wahrscheinlich auch 1643 XII 20. Charakteristisch ist, daß Nuntius und Erzbischof in der entscheidenden Phase für die Kölner Koadjutorwahl, 1640, keinen direkten Kontakt pflegten. – Dementsprechend sachlich, aber blaß, ist die eig. Notiz Chigis, die den Briefen des Kurfürsten Ferdinand an Chigi in
Chig.
lat. B I 2
fol. 76/103, 105/255 (= 1639 VII 24 bis 1650 VIII 22) vorhergeht: Ferdinando elettore die Baviera era fratello del duca Massimiliano elettore di Baviera, et insieme finché visse fu vescovo di Liegi, di Munster, d’Ildesein, e di Paderborna, pio signore, amico della caccia, e che non si ordinò mai sacerdote. morì nel 1650 lassando il nepote figlio del duca Alberto per suo coadiutore, che fu elettore, e vescovo di Liegi, e di Ildesein.
; aber das waren offizielle Begegnungen, Akte der Courtoisie, vom Zeremoniell gefordert, bei denen nicht verhandelt, sondern bestenfalls das vorher vom Nuntius mit den kurkölnischen Räten Ausgehandelte bekräftigt wurde. Nicht jedoch der Erzbischof, sondern sein Offizial ist ständiger Besucher in der Nuntiatur. Er gehört zu dem Kreis der zwei, drei Dutzend Ordensoberen (nicht nur Jesuiten!) und Stiftsherrn, die alltäglich beim Nuntius zu persönlichen Verhandlungen erscheinen, mit denen Chigi kooperiert, sich berät, denen er Aufträge erteilt, die ihn um Unterstützung bitten und sich seiner Hilfe im eigenen Wirkungskreis versichern. Der Nuntius schaltet sich in die Verwaltung und Regierung der Ortskirche nur durch indirekten Kontakt mit dem Erzbischof ein, der gleichzeitig Ortsbischof in Hildesheim, Paderborn, Münster und Lüttich ist, vor allem aber durch direkten Kontakt mit jener kleinen Führungsschicht von Kanonikern und Ordensprie-stern, die tatsächlich die Verwaltung und Regierung tragen, die den Alltag bestimmen und die großen Entscheidungen so vorbereitet haben, daß deren
[p. XXXV]
[scan. 35]
Vollzug sich nahezu prozeßhaft ergibt. Mit dieser weniger nominellen als tatsächlichen Führungsgruppe der Kirche hat Chigi nach dem Ausweis seines Tagebuchs in einem ganz dichten Geflecht ständiger persönlicher Kontakte gestanden, solange er in Köln residierte. Seine Besucherliste aus den Jahren in Münster und Aachen nimmt sich in dieser Hinsicht erheblich kleiner aus, ohne daß der wegfallende persönliche Kontakt durch erhöhtes Korrespondieren ausgeglichen worden wäre. Das ist bemerkenswert.
Der Ertrag schließlich, den das Chigi-Tagebuch für die Sozial- und Kulturge-schichte abwirft, ist insofern bedeutend, als diese Quelle ja nichts anderes als »Alltag« im wahrsten Sinne des Wortes festhält. Das findet sich anderswo selten; deshalb ist der Gedanke, nur eine unter bestimmten Fragestellungen gekürzte Fassung des Chigi-Tagebuchs herauszubringen, verworfen worden. Es ist natür-lich für die Geschichte des Westfälischen Friedens und auch für die Geschichte der Kölner Nuntiatur unter Chigi gänzlich belanglos, daß dieser am 29. August 1651 einem jungen Häschen auf der Wiese Beine machte (
DCh 1651 VIII 29); aber es ist kultur- und sozialgeschichtlich recht interessant, daß der Friedensver-mittler von Münster und künftige Kardinalstaatssekretär das nicht nur tut, sondern auch in seinem Notizbuch festhält. Hingegen bieten die leider nicht ganz regelmäßigen, aber doch häufigen Notizen über das Wetter wertvolle klimageschichtliche Ergänzungen – wir befinden uns ja noch in einer Zeit ohne kontinuierliche apparative Messungen
Auch das Diarium Lamberg
(APW III C 4) enthält ähnliche Wetternotizen wie das Chigi-Tagebuch. Die beiden einander ergänzenden Angaben ließen sich klimageschichtlich durchaus verwerten.
. Von besonderem, nicht nur biographi-schem und medizingeschichtlichem, sondern allgemein-historischem Interesse dürften auch die offenbar sehr regelmäßigen Aufzeichnungen über Krankheit und Gesundheitsfür- und -vorsorge sein, die Chigi sich notiert hat. Das ständige Purgieren, Klistieren und Aderlassen mit der Beschreibung seiner unmittelbaren Wirkung oder Wirkungslosigkeit war für den Tagebuchschreiber wahrscheinlich deshalb so wichtig, weil er seine eigenen Körperfunktionen nur rational kontrollieren konnte, wenn er die Dinge im Tagebuch festhielt. Dabei geht es nicht nur um sein Steinleiden, um die Vorgeschichte und die Verlaufsgeschichte der Operation am 8. und 17. November 1642 mit ihren Folgen, deren Beschreibung auch medizingeschichtlich interessant ist
Meinem Bonner Kollegen für Medizingeschichte, Prof. Nikolaus Mani, danke ich für bestätigende Auskünfte, besonders aber seiner Mitarbeiterin Dr. Charlotte Schubert, die mich auf die vergleichbaren, aber anderen Fälle Michelangelo, Montaigne und Samuel Pepys hinwies.
, weil die postoperative Phase hier aus der Sicht des Patienten festgehalten ist. Chigi hat nach dieser Operation immerhin noch
25 Jahre lang gelebt und wirken können; die Qualen waren also nicht vergeblich ertragen worden. Auch in den Jahren danach, als er über eine relativ gute Gesundheit verfügte, war das körperliche Wohlbefinden und das Kurieren kleinerer Erkrankungen Gegenstand sorgfältiger Beobachtung
[p. XXXVI]
[scan. 36]
durch Chigi, so daß seine Vorbeugungsmaßnahmen und Kuren, die Arzneien und die Ärztebesuche genau zusammengestellt werden können
Vgl. zum Beispiel
DCh für 1649: I 1, 10, 12, 14, 21, 24, II 4, IV 8, 26, 27, 28, 29, 30, V 2, 3, 4, 5, 6, 7, 10, VI 2, 15, 16, 17, 19, 30, VII 14, 15, VIII 21, IX 21, 22, 23, 24, 25, 27, 28, 29, 30, X 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 11, 19, 21, 23, 25, 26, 27, 28, XI 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 15, 16, 17, 21, 26, XII 19, 28.
.
Die sozial- und kulturhistorischen Beobachtungen über das Leben des päpstli-chen Diplomaten in Deutschland von 1639 bis 1651, die sich aus seinem Tagebuch ergeben, sind viel zu zahlreich, als daß sie hier auch nur im Gröbsten einigermaßen vollständig umschrieben werden könnten. Das Chigi-Tagebuch führt uns in eine hohe Gesellschaftsschicht, deren Lebensstil sich von demjenigen der breiten Bevölkerungsschichten damals ganz erheblich unterschied
Über den Lebensstil der Diplomaten des Westfälischen Friedenskongresses nunmehr mit einer Fülle systematischer Beobachtungen
F.
Bosbach.
. Was wir bei Chigi finden, ist außerdem nicht einmal für die kleine Schicht, zu der er zählte, unbedingt typisch: nicht jeder Nuntius dieser Zeit verfaßte eigene lateinische Gedichte und pflegte literarische Kontakte, durch einen ausgedehnten Briefwechsel in die halbe Welt hinein
Das allermeiste ist ungedruckt. Einige Bruchteile der Korrespondenzen mit Holstenius, Malvezzi und Rossi sowie mit P. Karl von Arenberg OFMCap, Caramuel und Van der Veken bei
G.
Incisa
della
Rocchetta, Nunziatura; der antijansenistische Briefwechsel, den
A.
Legrand
/L.
Ceyssens publiziert haben, wäre ergänzungsfähig. Insbesondere der dichte Brief-wechsel mit Van der Veken ist, über das Jansenismusthema hinaus, theologie- und frömmig-keitsgeschichtlich von größtem Interesse; es wäre im Vergleich mit der Arenberg-Korrespon-denz zu untersuchen; dazu vgl.
F.
Callaye.
, wie durch persönlichen Austausch am Ort
Zu den literarisch-poetischen Kontakten vgl. etwa
DCh 1644 IV 22, 23, V 10, VI 30 (Saavedra); 1645 X 8 (Generini); 1648 XI 10, XII 19 (Bertaut), zu den Kontakten mit antiquarisch oder zeitgeschichtlich interessierten Historikern vgl. etwa
DCh 1640 I 12 (Ägidius Gelenius), die mehrfachen Begegnungen mit Godefroy, aus dessen nachgelassenen Papieren Chigi sich Kopien anfertigen ließ (
DCh 1649 X 16, XI 4), oder das Gespräch mit Adami (
DCh 1649 XI 1).
; daß die Diplomaten sich untereinander mit kleinen Gefälligkeiten bedachten, war sicher allgemeine Sitte
Vgl.
DCh
1644 IX 26 (christalli di Venetia),
XI 14 (salsiccia),
XII 18 (pernici);
1645 I 19 (formaggio di Parma),
II 21 (prugne e mele),
III 8 (giallatina
und cotognate),
III 20 (brugne),
IV 14 (fagiani vivi).
Mit Abschiedsgeschenken zum Kongreßende war Chigi äußerst zurückhaltend; vgl. 1647 III 21 (Herzogin Longueville); 1649 I 5 (Gräfin Lamberg), 115 (Gouvernante Lambergs), III 27 (Frau Nomis), IV 10 (Frau Brun).
, aber nicht jeder Diplomat achtete auf die Pflege und Bewahrung seiner amtlichen
und privaten Akten
Vgl.
DCh 1643 XII 8; 1646 VIII 8; 1648 V 12, IX 30; 1649 II 4, 8, XII 24; 1650 I 26; 1651 I 17, 30, 31, II 7.
so sorgfältig wie Chigi; und nur wenige legten sich bei der Teilnahme am Gesellschaftsleben der Kongreßdiplomatie so deutlich Zügel an wie Chigi
Der Teilnehmerkreis der beim Nuntius zum Essen Eingeladenen ist in Münster nicht wesentlich von dem Kölner Kreis unterschieden. Einladungen und Gegeneinladungen zu den Friedensunterhändlern (mit Ausnahme Contarinis) fehlen.
.
[p. XXXVII]
[scan. 37]
Sein Tagebuch ist eben wie ein Brennspiegel, in dem wir die Individualität seines Verfassers erkennen und also auch etwas Allgemeines fassen können. Das Leben im kirchlichen Köln des Dreißigjährigen Krieges und im Münster des Westfälischen Friedenskongresses sowie im Aachen der ersten Nachkriegsjahre, in denen der Krieg ringsum weiterging, erhält durch Chigis Notizen, trotz ihrer Nüchternheit, Farbe und Relief; denn es führt uns immer hinter die Fassaden und Kulissen – nicht, indem es verborgene Gedanken enthüllt, sondern indem es das Handeln, das Tun der Menschen als Faktizität festhält. Deshalb läßt sich auch der Mensch Fabio Chigi durch sein Tagebuch in seiner sozialen Welt und Kultur viel unmittelbarer fassen, als dies allein aus seinen zahllosen Briefen, die erhalten sind, möglich wäre. So erschließt sich uns ein politik-, kirchen-, kultur- und sozialgeschichtlich höchst interessantes Leben
Auf die Frage, ob Chigi sein Tagebuch für die autobiographischen, höchst wertvollen Aufzeichnungen benutzt hat, die G.
Incisa
della
Rocchetta,
Appunti publiziert hat, kann hier nicht eingegangen, noch weniger aber das Problem der Chigi-Biographie von S.
Pallavicino
im Lichte des
DCh
behandelt werden.
von damals.